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Justi, Carl
Winckelmann, sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen: mit Skizzen zur Kunst- und Gelehrtengeschichte des 18. Jahrhunderts (Band 2,1): Winckelmann in Italien — 1972

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https://doi.org/10.11588/diglit.52963#0095
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§ 19. Wendung.

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Jahre, die eigentümlichsten Gebilde seines Genius, seines Stils, sie drängen
sich zusammen in jene kurze erste Zeit, in diesen blütenreichen Frühling seines
neuen, zweiten Lebens. Es ist der Wein aus dein köstlichsten Saft, den die
Trauben durch den Druck der eigenen Schwere von sich geben, ohne Kelter.
Wenn also auch hier die erste Berührung die schaffenden Flammen ent-
zündet: so zeigt sich wieder, wie oft das Erkennen Schauen ist, ein Hineinsehen
in die Dinge durch innere Geisteskraft, welche die inneren Organe geheim-
nißvoll für ihren Gegenstand sich formte, längst ehe die äußeren Organe mit
diesem in Berührung getreten waren. Das Studium ist nur Gelegenheits-
ursache der wahren Einsicht. Ein Shakspeare schafft aus wenigen dürftigen
Erlebnissen, aus Skizzen eigener Leidenschaften seine ewigen Gemälde der
Menschheit; der gewöhnliche Mensch tritt aus Ungeheuern Erfahrungen und
Kämpfen eines langen stürmischen Lebens ebenso unwissend über sich selbst,
Menschenherz und Menschenschicksal heraus, wie er hineinkam. Und so
stehen auch in der Wissenschaft am Anfang die kühnen Systeme des Makro-
kosmus und Mikrokosmus, die Zeit und Erfahrung reicher, richtiger aus-
führen können, aber die selbst zu schaffen der weiser gewordenen Nachwelt
der Muth fehlen würde.
 
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