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Justi, Carl
Winckelmann, sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen: mit Skizzen zur Kunst- und Gelehrtengeschichte des 18. Jahrhunderts (Band 2,1): Winckelmann in Italien — 1972

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https://doi.org/10.11588/diglit.52963#0321
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§ 69. Neue Perspective.

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treten, bei einem stets sich erweiternden Plan, erst von vorn an; Kunsthändler
gingen ein und aus, als sollte ein leeres Schloß erst ausgestellt werden. Zu
was für schwierigen Erörterungen in gelehrten Sitzungen gaben die Deutungen
und Benennungen Anlaß! zu wie delicaten z. B. die Wahl der Maler! Bei
eiuem so kundigen und geschmackvollen Bauherrn, der selbst Baumeister war,
wieviel Kämpfe gab es da mit Epecutirenden, die alle in der Routine des
Barockstils ausgewachsen waren, gegen die sich doch schon damals und auch
beim Cardinal selbst, eine Gegenströmung bemerklich machte.
Derselbe Ort welcher den Mittelpunkt so ernster Beratungen, Geschäfte
und Arbeiten bildete, war zugleich die Stätte geselliger Lustbarkeit, ja er glich
zu Zeiten einem kleinen Hof, wo Coneerte, Conversazionen, Soupers und
Balle ohne Unterbrechung folgten. Auch unser gelehrter Freund wurde durch
seinen Herrn in die große Welt hineingezogen, er besuchte nun mit ihm die
Adelseonversazionen und die muficalifchen Academien Roms. Dann aber
genoß man die Geselligkeit auch mit der unentbehrlichen Zugabe des römischen
Lebens: der Gebirgsluft bei Albano, der Seeluft am Gestade des latei-
nischen Meers.
Der alte Cardinal schien sich in diesem lebhaften Verkehr zu verjüngen:
feine Sammellust entzündete sich neu wie einst in den Tagen des Oheims
Clemens; auch die Aufregungen der Baulust erlebte er zum zweitenmale.
Winckelmanns unruhiger Forschergeist wirkte ansteckend: „er hat mit mir
viele Gallerien und andere Orte gesehen, an welche er sonst nicht weiter
gedacht hätte, und wenn er sein Wort hält, wollen wir beide alles bereifen,
was in der Campagna di Roma ist; ja er will mich bis nach Caprarola
führen". Er war für den Cardinal eine lebendige Bibliothek, wie jener für
ihn ein Schatz von Memoiren eines sechzigjährigen antiquarischen Commerz.
Auch er erlebte damals etwas wie eine zweite Jugend. Er hatte sich in
Dienstbarkeit und Entbehrung die Liebe zur Freiheit, die Frische der Sinne
und des Herzens bewahrt: nun konnte er in der milden Luft des Südens,
bei fo anmuthigen Studien, in der Bewegung der Reisen, noch der Leichtigkeit
italienischen Lebens sich überlassen. Jenes bewegte Treiben war die unent-
behrliche Bedingung der eigentümlichen Freundschaft beider Männer; das
Element von Kunst und Altcrthum war das Medium, in welchen sie sich als
gleich fühlten, die durch Alter und Stand soweit getrennt waren. Denn
verschiedenere Wege giebt es nicht auf Erden als die, welche sie ihr Dämon
geführt hatte: von todter Büchergelehrsamkcit, aus Hunger und Kummer kam
der eine, aus der pomphaften Nichtigkeit geistlichen Hoflebens der andere:
spät trafen sie sich, der Kirchenfürst aus Urbino, der Schustersohn aus der
Altmark, an einer Stätte die von beider Ausgang soweit entfernt lag: der
griechischen Kunst, und sie fühlten sich wie zwei Brüder.
 
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