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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 27.1911-1912

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Michel, Wilhelm: Die Grenzen des Subjektiven in der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.13090#0487

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DIE GRENZEN DES SUBJEKTIVEN IN DER KUNST \

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GEORG MERKEL AM VORABEND

Frühjahrausstellung des Wiener Hagenbundes

I und den Kunstfreunden Werke hinstellten, wältigten Stoffmasse geben. Der Künstler
die, so sehr sie auch aus ernstem Streben legt einen gewissen Weg von der „Wirklich-
entsprangen, doch die dem Wesen der Kunst keit" bis zu seiner endgültigen Niederschrift
inhärenten Grenzen der Subjektivität in unzu- zurück. Diesen Weg mit einem Teil seiner
lässiger Weise überschritten. Hemmungen und Widerstände muß uns der
Der Künstler steht vor objektiver Wirklich- Künstler zeigen, damit wir in die Lage kommen,
keit und erfährt von ihr einen irgendwie ge- seine Leistung zu würdigen. Diesen „Weg"
arteten subjektiven Eindruck. Das heißt: er kann er uns aber nur dann zeigen, wenn er
verarbeitet in seiner Phantasie so und so uns einen Begriff von der Erscheinung gibt,
viele sinnliche Daten zu etwas, das schließ- die ihm als Ausgangspunkt diente. Diese Er-
lich die erregenden Momente dieser Sinnlich- scheinung, das Substrat seines „Eindruckes"
keit in einer gewissen Abkürzung und Ver- muß irgendwie in der Darstellung fühlbar ge-
dichtung enthält. In seine Darstellung sucht macht werden, sonst schwebt der ganze Ver-
er dann diese erregenden Momente lebendig arbeitungsprozeß gewissermaßen in der Luft
und aktiv hinüberzuretten. Sein Werk will — für das Auge und das Gefühl des Dritten.
höchste, dichteste, freieste Aktivität sein. Aus Es kann subjektiv sehr geistreich sein, wenn
der mit tausend Schlacken versetzten Erschei- ein Künstler als Summe irgend eines Erschei-
nungsmasse destilliert der Verarbeitungsprozeß nungskomplexes, sagen wir eines Menschen,
die reine lineare oder koloristische Energie, eine einfache Vertikale notiert. Aber was hat
Seine Leistung besteht in der Ueberwindung diese Notiz für den Dritten für einen Wert?
der trägen Stofflichkeit. In der Veranschau- Es kann höchste Empfindung ausdrücken,
lichung, in der Fühlbarmachung dieser orphi- wenn ein Mensch seine Gefühle gegenüber
sehen Ueberwindung liegt der eigentliche Wert einem prachtvollen Sonnenuntergang in einem
der Niederschrift. Damit dieser Wert der Naturlaut des Staunens, in der Interjektion
Niederschrift vom Beschauer empfunden werde, „ah!" zusammenfaßt. Ist eine solche Inter-
1 muß sie uns einen Begriff von jenem Ver- jektion aber eine Darstellung des Sonnenunter-
1 arbeitungsprozeß, einen Begriff von der über- ganges? Vermag ein Dritter mit ihr irgend

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