[ VOM DEUTSCHEN KÜNSTLERBUND l
KARL STEMOLAK MUTTER
Große Kunstausstellung Dresden 1912
Der Satz Albrecht Dürers: Die Kunst, sie zum Verbrecher oder Selbstmörder, der aus
steckt wahrlich in der Natur, und wer sie heraus der Lektüre eines Schauerromanes oder einer
kann reißen, der hat sie, ist eine bewußte pessimistischen Weltanschauung den unwider-
oder unbewußte Selbsttäuschung. Andersherum stehlichen Antrieb zur Tat empfängt, ist nur
muß es heißen: Die Kunst steckt im Menschen, eine Stufenleiter von Beispielen, daß das Leben
Wer sie in die Natur hineinsehen kann, wer der suggestiven Macht irgendeines künst-
die Fülle der Natur umbilden, stilisieren, zur lerischen Vorbildes folgt.
Schönheit vergewaltigen kann, der hat sie." Ein drolliges Erlebnis dieser Art hatte ich
„Sie stellen Behauptungen auf, bei denen in Wien. Es war zur Zeit, da alle Welt für
einem schwindelig wird," unterbrach ihn der die Botticelli-Frisur schwärmte. Zwei fesche
Laie, „aber mir scheint, als sähe ich heute die Wiener Madeln saßen im Cafe, die eine war
Dinge anders als sonst. Ich werde umlernen ä la Botticelli frisiert. Da sprach leise seufzend
müssen." % die andere zu ihrer frisierten Freundin: „Ach,
„Daß das Leben der Kunst nacheifert, verraten Sie mir's doch, wo wohnt eigentlich
ist Tatsache", sagte der Künstler. „Als Goethe die Botticelli?" Pepi hatte offenbar in ihrer
seinen Werther geschrieben hatte, nahmen sich Unschuld den guten Botticelli für eine Art
die lebenden Werthers der „Wertherzeit" das Konkurrenz der Frau „Anna Czillag" gehalten!
Leben — sie kopierten getreulich nach dem Ich saß bei diesem Gespräch zufällig am Neben-
Original. Heute haben wir in unsererNietzsche- tisch."
zeit eine ähnliche Erscheinung. Vom Schul- ,Entzückend!", rief der Kritiker. „Wiener
buben, der nach dem Lesen des „Lederstrumpf" Mädel sind überhaupt zum Küssen lieb . . .
auf Abenteuer ausgeht und Indianer spielt, bis Die Pepi und die Poldi. — Wie aber kommen
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KARL STEMOLAK MUTTER
Große Kunstausstellung Dresden 1912
Der Satz Albrecht Dürers: Die Kunst, sie zum Verbrecher oder Selbstmörder, der aus
steckt wahrlich in der Natur, und wer sie heraus der Lektüre eines Schauerromanes oder einer
kann reißen, der hat sie, ist eine bewußte pessimistischen Weltanschauung den unwider-
oder unbewußte Selbsttäuschung. Andersherum stehlichen Antrieb zur Tat empfängt, ist nur
muß es heißen: Die Kunst steckt im Menschen, eine Stufenleiter von Beispielen, daß das Leben
Wer sie in die Natur hineinsehen kann, wer der suggestiven Macht irgendeines künst-
die Fülle der Natur umbilden, stilisieren, zur lerischen Vorbildes folgt.
Schönheit vergewaltigen kann, der hat sie." Ein drolliges Erlebnis dieser Art hatte ich
„Sie stellen Behauptungen auf, bei denen in Wien. Es war zur Zeit, da alle Welt für
einem schwindelig wird," unterbrach ihn der die Botticelli-Frisur schwärmte. Zwei fesche
Laie, „aber mir scheint, als sähe ich heute die Wiener Madeln saßen im Cafe, die eine war
Dinge anders als sonst. Ich werde umlernen ä la Botticelli frisiert. Da sprach leise seufzend
müssen." % die andere zu ihrer frisierten Freundin: „Ach,
„Daß das Leben der Kunst nacheifert, verraten Sie mir's doch, wo wohnt eigentlich
ist Tatsache", sagte der Künstler. „Als Goethe die Botticelli?" Pepi hatte offenbar in ihrer
seinen Werther geschrieben hatte, nahmen sich Unschuld den guten Botticelli für eine Art
die lebenden Werthers der „Wertherzeit" das Konkurrenz der Frau „Anna Czillag" gehalten!
Leben — sie kopierten getreulich nach dem Ich saß bei diesem Gespräch zufällig am Neben-
Original. Heute haben wir in unsererNietzsche- tisch."
zeit eine ähnliche Erscheinung. Vom Schul- ,Entzückend!", rief der Kritiker. „Wiener
buben, der nach dem Lesen des „Lederstrumpf" Mädel sind überhaupt zum Küssen lieb . . .
auf Abenteuer ausgeht und Indianer spielt, bis Die Pepi und die Poldi. — Wie aber kommen
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