Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 27.1911-1912
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https://doi.org/10.11588/diglit.13090#0589
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Tietze, Hans: Der Blaue Reiter
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DER BLAUE REITER
men und Farben ja
an die allgemeinsten
menschlichen Ge- j
fühlserfahrungen ap- I
pellieren, löst einen '
Widerhall aus, dessen
Intensität wunderbar
und fast unbegreiflich
ist. Aber auch ab- i
gesehen von diesen j
starken inneren Erleb- (
nissen, die die neue (
Kunst einzelnen zu
gewähren beginnt,
wird dieses Ringen
nach Durchgeistigung,
dieser Kampf um eine
neue Synthese nicht i
umsonstgewesensein; |
cesare maggi dorfstrasse denn wenn die neue j
X. Internationale Kunstausstellung Venedig 1912 Kunst auch nicht die I
Kunst aller werden I
ihr Los; es ist ihr nicht gegeben zur Nur- kann, so wird sie doch die Kunst aller um-
kunst zu werden. formen. Mit einer Eindringlichkeit und Selbst-
Aus allen diesen Gründen glaube ich nicht, Verleugnung sondergleichen wird uns hier in ,
daß die neue Kunst in dem Sinn siegreich Erinnerung gerufen, daß die Nachahmung
werden kann, daß wir — wie einer der Her- der Natur, das Abbilden der Wirklichkeit
ausgeber des Blauen Reiters sagt — ihren Ideen nicht die Aufgabe der Kunst sind; und nach |
eines Tages auf der Landstraße begegnen den Jahrzehnten des Impressionismus, der I
werden. Sie wird nicht die allgemeine Aus- wohl auch die Wirklichkeit nicht abmalen I
drucksweise werden, weil sie den
mächtigen Wall Jahrhunderte lan-
ger Tradition nicht so bald nie-
derzureißen vermag, wenn nicht
eine gewaltige, katastrophale Er-
schütterung unserer ganzen Kultur
erfolgt; weil ferner die Kunst nie
zum bloßen Ausdruck werden und
nie von all den anderen geistigen
Aufgaben frei werden kann, mit
denen sie verwachsen ist.
Die Theorien der neuen Kunst
sind papieren wie alle Theorien;
aber man darf die Bewegung nicht
mit ihnen identifizieren, denn die
Kraft, die in ihr schäumt, läßt
sich in die Doktrinen ihres Wort-
führers Kandinsky nicht einfangen,
der schon längst Akademiepro-
fessor sein sollte, so sehr über-
trifft bei ihm die Theorie das
Können. Das Temperament und
der Instinkt der Künstler durch-
1 brechen die Schranken, die ihre
j Reflexionen ihnen ziehen könnten; GIOrgio brosch prinzregentenfe.hr
Und manches Werk, dessen For- X. Internationale Kunstausstellung Venedig 1912
Die Kunst fllr Alle XXVII.
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men und Farben ja
an die allgemeinsten
menschlichen Ge- j
fühlserfahrungen ap- I
pellieren, löst einen '
Widerhall aus, dessen
Intensität wunderbar
und fast unbegreiflich
ist. Aber auch ab- i
gesehen von diesen j
starken inneren Erleb- (
nissen, die die neue (
Kunst einzelnen zu
gewähren beginnt,
wird dieses Ringen
nach Durchgeistigung,
dieser Kampf um eine
neue Synthese nicht i
umsonstgewesensein; |
cesare maggi dorfstrasse denn wenn die neue j
X. Internationale Kunstausstellung Venedig 1912 Kunst auch nicht die I
Kunst aller werden I
ihr Los; es ist ihr nicht gegeben zur Nur- kann, so wird sie doch die Kunst aller um-
kunst zu werden. formen. Mit einer Eindringlichkeit und Selbst-
Aus allen diesen Gründen glaube ich nicht, Verleugnung sondergleichen wird uns hier in ,
daß die neue Kunst in dem Sinn siegreich Erinnerung gerufen, daß die Nachahmung
werden kann, daß wir — wie einer der Her- der Natur, das Abbilden der Wirklichkeit
ausgeber des Blauen Reiters sagt — ihren Ideen nicht die Aufgabe der Kunst sind; und nach |
eines Tages auf der Landstraße begegnen den Jahrzehnten des Impressionismus, der I
werden. Sie wird nicht die allgemeine Aus- wohl auch die Wirklichkeit nicht abmalen I
drucksweise werden, weil sie den
mächtigen Wall Jahrhunderte lan-
ger Tradition nicht so bald nie-
derzureißen vermag, wenn nicht
eine gewaltige, katastrophale Er-
schütterung unserer ganzen Kultur
erfolgt; weil ferner die Kunst nie
zum bloßen Ausdruck werden und
nie von all den anderen geistigen
Aufgaben frei werden kann, mit
denen sie verwachsen ist.
Die Theorien der neuen Kunst
sind papieren wie alle Theorien;
aber man darf die Bewegung nicht
mit ihnen identifizieren, denn die
Kraft, die in ihr schäumt, läßt
sich in die Doktrinen ihres Wort-
führers Kandinsky nicht einfangen,
der schon längst Akademiepro-
fessor sein sollte, so sehr über-
trifft bei ihm die Theorie das
Können. Das Temperament und
der Instinkt der Künstler durch-
1 brechen die Schranken, die ihre
j Reflexionen ihnen ziehen könnten; GIOrgio brosch prinzregentenfe.hr
Und manches Werk, dessen For- X. Internationale Kunstausstellung Venedig 1912
Die Kunst fllr Alle XXVII.
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