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22

eine Tante

eine Tante! !Z>Z^

Line Berliner Stadtgeschichte.

i.



Es war im Thiergarten 1853. Der Winter
war vorüber oder sollte noch kommen. In derselben
^Lage befanden sich die merkwürdigsten Ereignisse deö
/Jahrhunderts. Sie waren vorüber oder sollten noch
kommen. In dieser langweiligen Schwebe und schwe-
benden Langenweile trafen sich am Saume des
Exercierplatzeö zwei weibliche Wanderer.
„Dieser Musikdirektor Gabriel hat doch ein fabel-
haftes Glück!" sagte die Tante Müller, denn diese war es.
„„Daö will ich meinen. Er bat die beste Kapelle, das rentabelste Ge-
schäft und bekommt die klügste Frau Berlins!"" cntgegnete Tante Sckultze,
denn auch diese war es.
„Kennen Sie ihn vielleicht näher, diesen Mosjö Gabriel?"
„„Ich nicht. Aber ich habe einen Cousin, der bat eine Cousine,
die bat einen Schwager der ein junges Mädchen kennt, die den Musik-
direktor Gabriel früber gekannt baben will!""
„So? WaS sie sagen! Vielleicht 'ne frühere Liebschaft oder so was?"
„„Kann wohl sein! Das trau' ich ibm schon zu!""
„Na gewiß. Der sieht ganz danach auö!"
„„Da können Sie Jift drauf nebmcn!""
„Daö will ich nicht, aber Tante Möricke will ich'S gleich erzählen. Ist
ja 'ne reizende Jeschichte. Himmlisch, jöttlick, englisch!

II. Eine S tunde später.
Am Brandenburger Thor.
Tante Flörike. Ne. is cs denn möglich?
Tante Mörike.. Wie ich Ihnen sage. Gabriel'S
_Braut will eben zum Kirchendiener schicken, daß er sie
nächsten Sonntag 's erste Mal aufbicum soll — kladderadatsch! kommt die Nach-
richt aus DingS-da. daß sich Gabriel bereits vor zehn Jabren verbeiratbet
bat. jar nickt Gabriel sondern Raphael beißt, und seine Frau und Kin-
der in Stich gelassen bat.
Tante Flörike. Also Bijamic! Des kann sehr eklich werden. Von
wem haben Sie'S denn?
Tante Mörike. Von der Schulden!
Tante Flörike. Denn io et ooch so. Die wohnt ja da draußen.
Die muß et ja wissen. Na det muß ick man jlcich die Leb mann erzählen.
Dct is ja jöttlick, himmlisch, englisch?

Hl. Eine Stunde später.
Am Frankfurter Thor.
Tante Sebmann. Ach Jotteken! Ach Jotteken!
Waö tbut mich die arme Braut leid? Is es denn aber
ooch wirklich wahr?
Tante Lebmann. Nu wie ich Jbncn sage. Sie wollen eben in den
Wagen steigen und zur Trauung in die Kirche fahren, der Kutschenschlag
wird ufgemacht. kladderadatsch! springt ein bleiches Frauenzimmer vor und
schreit: Zaruck! Ich bin sein Weib und hier sind seine zwei unjezogenen Kin-

/

der, mit denen er mir in Stich jelasscn. Und in demselben Augenblick um-
klammern oock schon die fünf kleenen Würmer det Atlaökleid von die Braut
und bitten ibr, sie nicht unglücklich zu machen.
TanteSebmann. Fünse? Ick denke. det waren bloß zwei Kinder
Tante Lebmann. I Jott bewabre! Zwei, da wär'ja jar nisckt bei!
Fünf kleine Jören, deö Aelteste noch nickt drei Jabr!
Tante Sch mann. Et iü schrecklich. Von wem baben Sie'S denn?
Tante Lehmann. Von de Flöriken.
Tante Sebmann. Na denn iS et ooch so. Die weeß Alleno.
Na ich will es man jleich die Jieseken erzählen. Det io so was vor die!

VI. Eine Stunde später.

Am Höllischen Thor.


Tante Pieseke. Also Allenö todt?
Tante Jieseke. Mausetodt! So wie er
seine verlassene Frau mit die sieben Kinder in de
Kirche stürzen sieht, jreisl er deö Jüngste und schlägt damit seine Frau und
die übrigen acht Kinder ustn Kopp, deö sie keenen Mucks mehr von sich jeden
und kladderadatsch, io er auö de Kirche raus, uf de Eisenbahn, futsch —
verschwunden!
Tante Pieseke. Und nich jekriegt!
Tante Jieseke. Nock nich. Aber uf de Spur sind sie ibm. Seit
zwei Stunden spielen schon alle Telegraphen.
Tante Pieseke. Na denn io et ooch so. Ick will et man jleich
die Strilzowen erzählen.
' «E» V M? I
V. Eine Stunde später.
Am Kottbuser Thor.
Tante Quitzow. Also sie baben ihn?
Tante Stritzow. Ja. In Neu-Ruppin
ufn Eisenbabnbof haben sie ibn bekommen!
Tante Quitzow. Nu werden se ibn woll heul
Nachmittag rin bringen ?
Tante Stritzow. I Jott bewabre. Wie er den Criminal-Commiffa-
riuS uf sich loökommcn siebt, nimmt er seine Jeije, schneidet sich die Seiten
ab. bängt sich dran uf und sticht sich mit'n Violinbogen durch s Herze!
Tante Quitzow (schluchzend). Schrecklich. Ein so hübscher Mensch!
Tante Stritzow (ebenso). Gräßlich! Es war een zu schöner Mann!
VI. Vier und zwanzig Stunden später.
Aus Tante Voß: „Obgleich amtliche,
auf Verlangen des Betbciligten eingestellte Nach-
forschungen den Ungrund dieser Gerüchte erge-
ben baben sollen, gleicht die Natur solcher
Anekdoten dock einem Lauffeuer und kann
durch Widerruf nicht beseitigt werden. Es
wird daber gegen die Wiedererzäbler und Ver-
breiter dieser abscheulichen Gerüchte die Ver-
leumdungoklage erhoben werden!"
Moral: Und wenn die Welt voll Tanten war', eö giebt dock noch
immer eine Tante die Alles wieder gut macht!
Onkel Napoleon! Onkel Spener! Onkel Tom!


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Fc u i l l e t o

Die Zeitungen meldeten aus Paris, daß daö vor einigen Wochen ab-
gc schaffte Institut der Claqueurs wieder eingeführt worden ist, da
während der Ferien jenes weltberühmten Instituts gewisse Personen bei
ihrem Eintritt ins Tbeater den sonst üblichen Empfang schmerzlich ver-
mißt haben sotten.
Das Genie unter den Dichtern und Schauspielern verschmäht die
Claque: nur Faiseurs und schlechte Komödianten bedürfen derselben.

Herr v. Gerlach will „den Tag als Feiertag segnen, an welchem
die neue Gemeindeordnung, diese Sckmach des Vaterlandes,
auö der Welt geschafft wird."
Obgleich wir eö grausam finden, daß ein Vater sein ungeratenes Kind
verstößt, so wollen wir doch dem schöpferischen Genie deö großen Staats-
mannes den Feiertag, d. b. den Tag gönnen, an welchem er nichts mcbr
zu schaffen hat.
 
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