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Kleinpaul, Rudolf; Heinrich Schmidt & Carl Günther [Mitarb.]
Neapel und seine Umgebung: mit 142 Illustrationen — Leipzig: Heinrich Schmidt & Carl Günther, 1884

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https://doi.org/10.11588/diglit.55172#0197
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DRITTES KAPITEL.

Der Beobachter in Pompeji.
Was man auf der Strasse sieht — Placate und Reclamen — die antiken Albums — Inserate, Wahlaufrufe und Theater-
zettel — Wirthshausschilder und Phallen zur Abwehr des Bösen Blicks — in einem Bäckerladen — ein Gläschen
Kalteschale — verdächtige Häuser — Verunreinigung ist verboten.
I.
Die in Pompeji gefundenen Inschriften sind in Theodor Mommsens Inscriptiones Regni
Neapolitani enthalten, wo sie Seite 112 bis 122 füllen, aber jene interessanten und charakte-
ristischen, von alten Narrenhänden hingeworfenen Malereien und Kritzeleien, wie sie sich an den
Stuckwänden der Häuser und der öffentlichen Gebäude finden, darin nicht mit aufgenommen; die
bis 1871 aufgefundenen hat die Berliner Akademie publicirt. Sie sind mitunter in oskischer
Sprache abgefasst und zeigen, dass die alte Mundart Campaniens noch über das Jahr 88. v. Chr.
hinaus in Gebrauch gewesen ist. Officiell wurde das Oskische nach dem Bundesgenossenkriege
und der Ausdehnung des Vollbürgerrechts über alle Völker der italischen Halbinsel abgeschafft,
die öffentlichen Inschriften aus der Kaiserzeit sind daher durchweg lateinisch. Die oskische Sprache
hat ihre besondere linksläufige Schrift und entbehrt des Zeichens für O und der weichen Konso-
nanten, B ausgenommen; wir müssen sie lernen, wenn wir in Pompeji nicht wie verrathen und
verkauft sein wollen. Denn wir würden ja sonst die zahllosen Affichen, die Bitten, die Ver-
sprechungen, die Reclamen nicht verstehen, die damals wie heute ausgestreut, mit Mennige und
wol mit Hilfe von Pinseln, von eignen Schreibern an die Mauern geschrieben worden und nach
achtzehn Jahrhunderten noch deutlich zu lesen sind.
Das ist der Reiz von Pompeji, dass man hier gar nicht das Gefühl von Alterthum und
von todten Ruinen, sondern nur das der Fremde hat, und dass man hinüberfährt als wie nach
einer Insel, wo noch heute die Alten wohnen, ihre weisse Toga über den Marktplatz schleifen,
ihren Geschäften und ihrem Vergnügen nachgehen und das schöne, sonore Idiom der Lateiner
erklingen lassen. Nichts hindert uns, ein paar Stunden in dieser Stadt, wie in einem andern
italienischen Nest zu bummeln, gaffend und neugierig das Pflaster zu treten und bald vor einem
Phallus stehn zu bleiben, der zur Abwehr des Bösen Blickes aufgerichtet ist, bald das Schild
eines Wirthshauses, zwei Männer, welche eine Amphora an einer Stange tragen, bald das einer
Milchhandlung zu betrachten: ein Kind, das eine Kuh melkt — von Caupona, zu Caupona,
von Thermopolium zu Thermopolium und von einer Popina in die andere zu laufen und zuzu-
sehn, wie sich die Soldaten in der Kneipe Wein und ihr Gläschen Kalteschale (FRIDUM
PUSILLUM) geben lassen — dabei auch die interessanten Frauenhäuser, das alte und das neue
Lupanar mit ihren Zoten und den obscönen Malereien eines Blickes zu würdigen — und endlich
die Reclamen zu lesen, die demüthigen, vielversprechenden Anzeigen von Wirthen, Handwerkern,
Unternehmern aller Art zu studieren und die pompejanischen Albums zu durchblättern.
Mitunter sind nämlich diese Anschläge nicht unmittelbar auf die Mauer, sondern zunächst
auf kleine weisse Tafeln von Gips gemacht, welche an der Mauer haften: ein solches Täfelchen
führte den Namen Album. Auf einem Album, das öffentlich aufgestellt wurde, veröffentlichte der
Pontifex die officielle Jahreschronik, der neuerwählte Praetor sein Jahresedict, der geschäftsführende
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