Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Koch, Alexander [Hrsg.]; Fuchs, Georg [Hrsg.]
Grossherzog Ernst Ludwig und die Ausstellung der Künstler-Kolonie in Darmstadt von Mai bis Oktober 1901: [ein Dokument deutscher Kunst] — Darmstadt, 1901

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3770#0021

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
i8

Grossherzog Ernst Ludwig

seines Blutes und seines Standes. Denn ob-
gleich das Grossherzogtum Hessen, hervor-
gegangen aus den Zufälligkeiten der Staaten-
bildung verwirrter Zeitläufte, politisch nur
einen mittleren Rang behauptet, so fasst es
doch Gebiets-Teile in sich, die zu den ältesten
Kultur - Stätten germanischer Besiedelung
gehören und die, wenn auch durch äusserlich
politische Grenz-Bestimmungen scheinbar ge-
trennt, mit den uralten Kultur-Gebieten der
Rhein-Ufer eine Einheit bilden, als deren
Mitte der Rhein - Main - Winkel nicht nur
geographisch aufzufassen ist. Und wenn wir
gar kein anderes Zeugnis hätten als das, dass
Goethe ein Sohn dieser Landschaft ist, müsste
uns das wahrlich genügen. Denn in ihm
wurden die Ströme des geistigen Lebens der
Nation zum erstenmal zusammengefasst und
durch ihn gesteigert zu jener gewaltigen
Aktivität nach Aussen, die sich wieder auf das
Leben zurückwendet, es allenthalben zu fassen
und zu gestalten trachtet nach den seelischen
Gesetzen und die den Rohstoff der äusser-
lichen Lebens-Formen läutert in schaffenden
Feuern bis er dereinst gleich dem Krystalle
zu einer höheren, vergeistigten, übersetzten
Wesenheit wird. In diesem Sinne ist uns
Goethe, wie Nietzsche sagte, »eine Kultur«
und er wird es uns von Tag zu Tag mehr
und wir zweifeln kaum noch, dass er Spä-
teren, den glücklich Voll-Besitzenden als der
mythische Heros erscheinen wird, der am
Anfang steht, der vor- und rückwärts über
die Jahrhunderte hinausschaut, und in dem
alle Werte bereits einmal eine individuelle
Form erlangt hatten. Es wäre müssig, hier
darüber mehr zu sagen; genug, dass Goethe
der Sohn des Gaues ist, dem die tausend-
jährige, goldene Völkerstrasse des »Vater«
Rhein die Blüte höchster germanischer Lebens-
Entfaltung je und je erbracht hat. — Nein,
nicht genug damit. Goethe, der Dichter des
ersten »Faust«, des »Werther« und des »Götz
von Berlichingen«, stand von Frankfurt aus
in engen Beziehungen zum Darmstädter Hofe.
Hier war sein Freund Merck der hochge-
achtete Berater, hier fand Herder die Gattin,

hier sammelten sich die richtunggebenden
Persönlichkeiten um die zarte, gütige, erha-
bene Gestalt Karolinen's, der »grossen
Landgräfin«, welcher der höchste Ehrentitel,
den die Geschichte zu verleihen hat, von
dem Berufensten zuerkannt wurde: von
Goethe. Sie war die Mutter des ersten Gross-
herzogs von Hessen, der Darmstadt in eine
moderne Stadt umschuf. Ludewig I. ist vor-
zugsweise bekannt als Freund der Musik
und der Oper. Seine 'bleibenden Erfolge
sind jedoch vielleicht eher noch auf dem
Gebiete der Baukunst zu suchen. Er er-
kannte das hervorragende Talent Moller's,
der als kühner Konstrukteur der Kuppel der
Katholischen Kirche, der als geschmackvoller
Erfinder mancher reizvollen Fassade noch
heute beachtet wird als ein trefflicher Ver-
treter des Empire-Karakters.

Doch wir wollen es vermeiden, auf eine
historische Untersuchung einzugehen, die
mehr dazu führt, kleine Einzelheiten und
nebensächliche Thatsachen aneinander zu
reihen, als die bewegenden und tieferen
Grundzüge aufzuklären. Ebensosehr wie die
Betrachtungsweise der Pedanten muss man
aber auch die der flüchtigen Tages-Kritik
und der Mode verlassen haben, wenn man
Dingen, die möglicherweise zu grossen Zielen
heranführen können, näher kommen will.
Man hat sich ja neuerdings an eine gänzlich
gefälschte Art der Kunstbetrachtung gewöhnt.
Durch die Manier der Zeitungen ist es fast
dahin gekommen, dass das »Aufsehen er-
regende« den Vordergrund aller zeitgenös-
sischen Vorgänge beherrscht, dass für den
grössten Teil des Publikums das »Sensatio-
nelle« fast mit dem Wertvollen zusammen-
fällt. Man ist vollständig befangen in dem
Wahn, dass es nichts von ausserordentlicher
Bedeutung geben könne, sonderlich in Kunst
und Litteratur, das nicht in Berlin oder doch
in München und Wien Staub aufgewirbelt
und den ohrenbetäubenden Lärm der Tages-
Presse entfesselt habe. Und doch lächelt
ein Jeder darüber, der da weiss, wie trugvoll
und betrügerisch dieses Treiben ist, und doch
 
Annotationen