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kommt es denn, daß, seit z. B. die Maler die zrundirte
Leinwand und die geriebenen Farben kaufen, ihre Tech-
nik und deren Gelingen von Andern abhängt und auch
ihr Urtheil über die Struktur des Werks nicht mehr
auf einem vollständigen Durchschauen dieser Struktur
beruht.

Während wir also einerseits die Einsicht des Ver-
fertigers, des Künstlers, des Virtuosen gewissen Ein-
schränkungen unterstellen mußten, konnten wir den Begriff
des Kundigen erweitern. Urtheilt nicht über da-s
körperlich Angemessene des Schuhes der Arzt besser, als
der anmessende Schuster? Ist die Erfindung der geschmack-
vollen Form nicht eher Sache eines Tänzers? Auch von
zweckmäßigen Stoffen neben dem Leder ist selten der
Schuster der erste Auffinder; wohl eher ein Fabrikant,
Kaufmann oder eine Dame.

Ob aber ein Schuh gut sitzt, ob und wo uns der
Schuh drückt (Eindruck), darüber reden wir Alle, Män-
ner, Frauen und Kinder.

Dies erhält auch seine Anwendung auf die Kunst.
Sie ist im Allgemeinen Wcltgeschmackssachc, National-
sache, Wissenschaft, Szienz, sie gehört zum Anschanungs-
und Gedankenkreise des Volkes und ist ein Fach der allgc-
mcinen Literatur. Dicß geht nun von den höchsten, tief-
sinnigsten Prinzipien der Kunst bis zum einzelnsten, ober-
flächlichsten Eindruck des Kunstwerks, von der genialsten
Auffassung des Darstellbaren bis zum letzten Pinselstrich
und Ton.

Die Sphäre der Kunst ist unermeßlich, die Forschun-
gen gehen in's Unendliche, jede Hauxtrichtung und Seite
der Kunst kann wohl den ganzen Menschen beschäftigen
und die Aufgabe eines Menschenlebens werden.

Wir wollen dieses reiche Feld unter einige große
Nenner bringen, um uns das Ucberschaue» zu erleichtern :

1) Die Geschichte der Kunst, das gelehrte Wissen
von den Aitcrthümern an bis auf die neuesten Kunster-
scheinungen; — Kunstgelehrsamkeit.

2) Die Vergegenwärtigung der Kunstwerke nach
Zeitaltern, Völkern, Schulen, Meistern re. von den älte-
sten bis auf unsere Zeiten durch leibhafte Anschauung
der Kunstschätze; — Kunstkennerschaft.

3) Die Erforschung der Gesetze des Schönen, ihrer
Anwendung ans geschichtliche, gesellige, naturgcschichtliche
Stoffe, theoretische Geschmacksbildung; — Kunstphilosophie.

4) Die Beobachtung der Natur, der menschlichen,
thierischcn, vegetativen und elementaren Sphäre und
ihrer Fähigkeit, in die Kunstform übertragen zu werden;
— Natur- und Kunstsinn.

5) Die Erlernung der Elemente und Fundamente
der bildenden Kunst, Uebung, Auffindung der Handgriffe,
Vortheile, Geheimnisse, technischen Combinationcn, Prak-
tik; - Kunstschule.

Der vollkommenste Kunsturtheiler wäre ohne Zweifel
derjenige, dem sämmtlich diese Kunden im vollsten Maße
zu Gebote ständen; denn bei jedem gegebenen Kunstwerke
schlagen sie an und sind bei dessen Anschanung und Wür-
digung Leiter der Bcurtheilung. Jedes einzelne Werk
will aus der Gesammtsphäre der Kunst verstanden sepn.
Je höher cs in vielen oder allen Beziehungen steht, desto
lauter appellirt es an den umfassendsten Kundigen, an
den hohen theoretisch-praktischen Meister, an den wissen-
schaftlichsten Künstler.

Man könnte sagen, das Lernen an einem großen
Kunstwerk, sein Durchdringen höre erst mit dem Durch-
schauen seines Werdens vom Entwurf bis zur letzten
Vollendung, seines Lebenselements, seiner zeitlich-räum-
lichen Herkunft auf, ja das Auge, der innere Sinn ent-
decke noch immer neue Seiten daran bis zur erlangten
Virtuosität des Selbstschaffens oder wohl gar des Bcsser-
schaffenS.

Das hieße nun freilich die Forderung an die Vefug-
niß zum Kunsturtheil auf's Höchste getrieben. Eö ist
aber doch gerathen, sich dieß vorzuhalten und dann sich
zu gestehen, daß der Nichtigkeit, Gründlichkeit und Schärfe
unseres Urtheils von jeder Seite der allgemeinen Kunst-
sphäre her Gefahr drohe, nach welcher hin wir nicht ge-
nug unterrichtet sind.

Wie einerseits das Wisse» der beste Leiter der Ein-
sicht in das Einzelne, Gegebene ist und Derjenige am
meisten und schärfsten sieht, der die beste Kunde besitzt,
so pflegt andererseits der Unkundige mit dem besten Wil-
le!'. '.llld mit der angestrengtesten Anschanuugslust doch
für gewisse Seiten des Gegenstandes, also gleichsam mit
sehenden Augen blind zu sepn.

Hier muß nämlich bemerkt werden, daß bei Natur-
und Kunstwerken die Oberfläche nur die hieroglvphische
Außenseite und räthselhafte Hülle eines geheimnißvollen
innern Lebens ist, und daß, wer seinen Blick noch so
lange an dieser Schale Herumschweifen läßt, darum doch
den Kern nicht sehe und die organische Construktivn der
ganzen Frucht nicht ahne.

Die Betrachtung eines Naturkörpers kann uns von
der Nichtigkeit dieser Behauptung am leichtesten über-
zeugen. Wir alle haben von Jugend auf Millionen
Pflanzen betrachtet und meinen wohl, an den gewöhn-
lichen nicht eben viel Neues mehr entdecken zu können.
Nun aber lesen wir etwa Goethes kleine Schrift: „über
die Metamorphose der Pflanzen." Auf einmal erscheint
uns der Organismus derselben in einem ganz anderen
Lichte, ja, wir bekennen, daß wir eigentlich denselben
noch nie recht bedacht, daß wir noch keine Pflanze, Blume re.
recht angeschaut haben. §in über die Phvsiologie der-
selben genossener Unterricht führt uns noch tiefer in das Lebe-'
derselben hinein; unser Blick wird weiter und zugleich
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