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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 29.1918

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Winckelmann und der Klassizismus
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Winckelmann und der Klassizismus

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So zeigte sich in allen redenden und bildenden
Künsten und in allen Kulturländern vom Ende des

17. Jahrhunderts an eine steigende Welle des Klassi-
zismus mit ihrem Höhepunkt in der Mitte des 18. Jahr-
hunderts, zur Zeit des ersten Auftretens von Winckelmann.

Dasselbe läßt sich im gelehrten Studium des Alter-
tums verfolgen. 1682 gab der Franzose Desgodetz
die antiken Gebäude Roms heraus, 1717 bereiste der
französische Graf Caylus Griechenland und die Le-
vante, 1715 brachte der englische Kunstgönner Richard
Boyle Earl of Burlington den venezianischen Archi-
tekten Giacomo Leoni zur Herausgabe des Palladio
nach England mit, 1734 gründete er die Society of
Dilettanti, die später besonders die Wendung zu
Studien in Griechenland herbeiführte. Seit 1751
nahmen die englischen Architekten Stuart und Revett,
seit 1753 der Franzose Le Roy die Denkmäler Athens
auf, die englischen Architekten Wood und Dawkins sowie
Robert Adam und der französische Zeichner Clerisseau
beschrieben Palmyra, Baalbek bezw. Spalato. Der
Venezianer G. B. Piranesi begann seit der Mitte der
Vierzigerjahre seine berühmten Radierungen von den
Altertümern Roms. Zwischen 1748 und 51 maß
Soufflot als erster die Tempel von Paestum auf.
1748 wurden die Ausgrabungen einer antiken Stadt
am Fuße des Vesuvs begonnen, die 1763 als Pompeji
erkannt wurde. Die meisten aus diesen Forschungen
hervorgegangenen Veröffentlichungen erfolgten erst
nach dem ersten Auftreten Winckelmanns.

Dieser entzündete sich zuerst an der griechischen
Literatur und stand schon nel mezzo del cammin di
nostra vita, als er sich in Dresden der bildenden
Kunst zuwandte. Dort hatte sich unter den beiden
August, II. und III., ein glänzender Hof aufgetan und
lebhaftes internationales Kunstleben entwickelt. Die
überquellende Dekorationsfülle des Zwingers hatte
Widerspruch erregt, und an ihre Stelle trat in späteren
Bauten der nüchterne französische Klassizismus, dessen
Gefolgsmann Krubsacius wurde. Als Schriftsteller hob
dieser schon 1745 nicht ohne Verständnis die Antike
hervor. Der eigentliche Mentor Winckelmanns wurde
der Maler Oeser, der das Glück hatte, später in
Leipzig auch der Lehrer des jungen Goethe zu
werden. Oeser war Schüler des einzigen bedeuten-
den deutschen Plastikers aus der ersten Hälfte des

18. Jahrhunderts, Georg Raphael Donner, der mit
einem warmen wenn auch schüchternen Natur-
empfinden klassizistische Anschauung verband, und
der somit mittelbar auch auf Winckelmann wirkte.

Von Dresden ließ dieser seine erste Schrift »Ge-
danken über die Nachnahmung der griechischen Werke
in Malerei und Bildhauerkunst« 1755 ausgehen, die
schon dieselben Grundgedanken enthält wie das 1764
erschienene Hauptwerk »Geschichte der Kunst des
Altertums«, was um so erstaunlicher ist, als Winckel-
mann damals nur eine sehr geringe Anschauung von
antiken Werken zur Verfügung stand. Sein Schön-
heitsideal für Malerei und Plastik war das der klassischen
Epoche der griechischen Kunst, die er weit über die
römische stellte. Nach seiner Ansicht hätten die grie-
chischen Künstler das Schöne, das sie in der Natur

in den Einzelheiten vieler schöner Körper fanden, zu-
sammengetragen, ja sie wären über die Natur hinaus-
gegangen, indem sie die Einzelheiten und das Ganze
nach einem bloß im Verstände entworfenen geistigen
Urbild idealisierten. Schönheit ist für ihn gleichbe-
deutend mit Ruhe, mit Absichtslosigkeit in der Wir-
kung, daher das berühmte Wort von der »edlen Ein-
falt und stillen Größe«, das er auch — nach unserer
Kenntnis der Spätantike nicht ganz richtig — auf den
Ausdruck bezieht. Dementsprechend preist er in seinen
»Anmerkungen über die Baukunst der Alten« den
strengen Ernst und die vorgebliche, in Wahrheit nur
durch die zerstörende Zeit bewirkte, Schmucklosigkeit
des älteren dorischen Baustils.

Die von Winckelmann empfohlene Nachahmung
der Antike und die Verwerfung des Naturstudiums
führten in Malerei und Plastik zu der blutleeren Kunst
der Mengs, David, Canova, Thorwaldsen u. a. Man
befolgte solche Lehren und suchte nach Regeln und
Vorbildern, weil die gestaltende künstlerische Phanta-
sie abgestorben war. So kam es auch in der Archi-
tektur zu einem steifen Klassizismus, von dem selbst
ein Parteigänger wie Richardson bekennen muß, daß
ihm die Wärme fehle und er das Resultat übertriebener
archöologischer Tendenzen wäre. Um so anerkennens-
werter ist es, daß es doch eine Anzahl von Meistern
und zwar deutschen gibt, denen es gelang, die antike
Form mit wirklichem Leben zu erfüllen, nämlich Car-
stens, der durch bloßes Studium mit dem Auge die
antiken Gestalten so ganz in sich aufgenommen hatte,
daß er sie aus eigener freier Phantasie wiedergeben
konnte, und eine Reihe von Berliner Architekten wie
Erdmannsdorff, Langhans und Friedrich Gilly. Diese
Künstler ließen sich weder durch die Antike noch
durch den zu ihrer Zeit in Berlin wirkenden fran-
zösischen und englischen Einfluß, von dem auch sie
berührt wurden, verleiten, ihre innere Selbständigkeit
aufzugeben. Der Vollender war dann Schinkel, der
das erreichte, was die Franzosen anderthalb Jahrhunderte
vergeblich erstrebt hatten: mit den Mitteln der Antike
moderne Aufgaben in antikem Sinne zu lösen. Wie
der erfolgreichste Prophet des Klassizismus in Winckel-
mann auf märkischem Boden erstand, so hat der
Klassizismus auch auf märkischem Boden seine edel-
sten Früchte getragen. Bezeichnend aber dafür, wie
schwer historische Ausdrucksformen selbst einen Künst-
ler von genialer Schöpferkraft belasten, ist es, daß
wohl der schönste Bau Schinkels derjenige ist, in dem
er der Antike sowohl in der Gesamtheit wie in den
Einzelheiten am freiesten gegenüber steht: Das König-
liche Schauspielhaus.

Die glücklichste Wirkung Winckelmanns ist einer-
seits seine Begründung der Archäologie als Wissen-
schaft, für die er die Grundlinien der Kunstentwick-
lung und Einzelbetrachtung schon richtig gezogen
hat, andererseits sein Einfluß auf die deutsche Literatur,
weil sie von ihm nur die edle, an den besten grie-
chischen Mustern geschulte Sprache entlehnte, voller
aufsteigender Schöpferkraft war und das von ihm ent-
worfene Gesamtbild des Altertums nur mittelbar zu
allgemeiner Erhebung benutzte, ohne sich an die
 
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