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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 29.1918

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Hagen, Oskar: Einheit der künstlerischen Persönlichkeit, Grünewald, Italien: ein kritischer Diskurs über Stilbildungsfaktoren
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https://doi.org/10.11588/diglit.6188#0126

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227

Einheit der künstlerischen Persönlichkeit, Grünewald, Italien

228

Wer die Bedeutung der kirchlichen Ikonographie im 15.—16.
Jahrhundert richtig einschätzt, muß hier bereits stutzen.
Die vorgeschriebene Darstellung der Passionsszene ist
ignoriert worden; ein genialer Künstler hat gleich von vorn-
herein alles über den Haufen geworfen. Offenbar aus einem
neuen starken Erlebnis heraus, dem die hergebrachte Form
nicht genügt. Wohl bleiben Typen und einzelne Motive
im Rahmen dessen, was man im mutmaßlichen Schulkreise,
dem der Maler entstammt, beim älteren Holbein z. B., findet.
Temperament, Farbentechnik, Ausdruck, alles weist eben-
falls auf diesen Kreis; und niemand wird sich darüber
wundern; denn daß Grünewald irgendwie mit dem Augs-
burger zusammenhängt, ist doch gewiß. Nur für eins gibt
es in diesem Kreis keine Analogie zur »Verspottung«, ja
die Voraussetzungen scheinen nicht einmal dagewesen
zu sein: Das Ganze, in seiner scharf ausponderierten
Diagonalzusammenfügung, die dekorativ so ungemein sichere
Gesamtkomposition, sie ist im damaligen Deutschland
überhaupt ohne gleichen.

Man könnte das vielleicht für ganz logisch halten.
»Die Klaue des Löwen«. — Aber — diese Klaue ist auf-
fallend gepflegt! Schon H. A. Schmid hat mit vollem Recht
von einem »ausgeklügelten« Bilde gesprochen, von einer
»befremdenden Korrektheit«, von etwas »Akademischem«,
das man sonst bei Grünewald nicht kennt. Und diese
Befremdlichkeit wohnt nicht nur der Figur des Schergen
oder allen anderen Beteiligten allein inne, sie ist vielmehr
eine Qualität des Gesamtwerks, herrscht in der
Disposition der Flecke, der Linienverknüpfung und der
psychologischen Belebung des szenischen Vorgangs.

Soweit also, bis zu diesem Fragezeichen, war die For-
schung gediehen, als ich des Rätsels doch wahrhaftig »un-
gezwungene« Lösung mit der Feststellung erbringen konnte,
daß die gesamte Konfiguration — also gerade das,
wofürin Deutschlanddie Parallelefehlteundwas
deshalb ausdeutscherTradition nicht zu erklären,
andererseits aber auch als Eigentümlichkeit
Grünewalds kaum zu begreifen war — mit einem
ganzen Ausschnitt aus der Buonarotti-Predella
in weitestgehendem Maße übereinstimme.

Nicht besonders betont zu werden brauchte für die
Fachleute, an die ich mich damals wendete, was heute her-
vorgehoben werden muß. Das was an Grünewalds Kom-
position ohne gleichen im damaligen Deutschland war, war
für Italien längst gewohnter Besitz. War aus den italie-
nischen Voraussetzungen autochthon erwachsen, während
Deutschland im Lauf der kommenden Jahrzehnte allen
Fleiß daran wandte, sich diese fremden Eigenschaften, so
gut es gehen wollte, anzupassen.

Mehr noch: das Florentiner Bild gehörte zur Gattung
der Legendendarstellungen, also zu denjenigen Wer-
ken, in denen sich die vom Zwang befreite Kunst zykli-
scher Schilderung dramatischer Ereignisse, freier noch als
im Wandbilde, ausgebildet hat; zu einer Zeit, als im
eigentlichen Altarblatt das Gnadenbild noch seine unbe-
wegte Existenz beibehielt. Es ist bekannt, wie gerade um
die Zeit, als Grünewald seine ersten bekannten Werke
schuf, auch in Italien die Erzählung und das dramatisch-
packende Moment ihr Herrschbereich endlich auf das Altar-
blatt auszudehnen beginnen. In Deutschland war die Er-
zählung aber von jeher zu Hause. Unbefangen zusehende
deutsche Augen werden also in der Fremde von vornherein
eine gewisse Vorliebe für solche »inoffiziellere« Dinge ge-
habt und sie zunächst auf das Erzählende, modern gespro-
chen, auf das Psychologische hin verstanden haben. Der
psychologische Kern des betreffenden Pesello-Ausschnitts
ist nun aber dem Grünewaldischen Bilde — trotzdem dieses

nun keine Legenden-, sondern eine Passionsszene dar-
stellt — so nahe verwandt, daß man es an sich ganz ver-
ständig finden wird, wenn ich kalkulierte: Falls Grünewald
die Predella gesehen hat, liegt es nahe, daß ihm, »als es
später galt, stofflich Verwandtes zu schildern«', mit dem be-
reits gesehenen Inhalt auch die gesehene Form assoziativ
ins Gedächtnis zurückkam. Daß er einen Ausschnitt
wählte, ist ebenso nur natürlich. Schon deshalb, weil der-
jenige, der eine solche Zyklendarstellung wirklich auf den
Gehalt hin betrachtet, immer die Teile zu trennen suchen
wird. Zumal muß das von einem Deutschen zu Ende des
15. Jahrhunderts erwartet werden. Die italienische, im 16.
Jahrhundert immer mehr sich ausbildende Vorliebe für das
Breitformat bei der Erzählung ist Deutschland immer im
Kern fremd geblieben. Der deutsche »Erzähler« denkt ganz
von selbst im Hochformat, und alles Gesehene nimmt
unwillkürlich in der Erinnerung diese Hochformat an; die
italienischen »Erzähler« hingegen waren so sehr an die
Breite gewöhnt, daß sie, wo einmal Hochformat durch be-
sondere Umstände bedingt wurde, lieber zum Gnadenthema
zurückgekehrt sind.1)

Ich meine, wenn es eine »ungezwungene« Erklärung für
sonst nicht zu erklärende Grünewalds rücksichtslose Ignorie-
rung der Ikonographie geben kann — hier ist sie. Und sie
wird noch plausibler, wenn man ihr psychologisch beikommt.

Grünewalds Umgestaltung der feierlichen, traditionellen
Passionsformel betrifft zuerst eine Vertiefung des Ereig-
nisses nach der ans Herz packenden Richtung des Mäch-
tigen und zugleich menschlich Einfachen hin, die ja bald
die ganze Zeit bestimmt. Ich habe eben schon auf Burck-
hardts treffendes Wort hingewiesen und erinnere noch
einmal daran. Alle neuen menschlich-psychologischen Aus-
drucksformen derstrengen religiösen Renaissancemalerei sind
Übernahmen aus einer anderen Formwelt, etwa aus der der
Legende, wo die wirklichen Menschen schon lange heimisch
waren, ehe die Götter ihre Gestalt und Sitte annahmen.

Letzten Endes ist solch ein Prozeß aber doch nur
äußeres Symptom, der den inneren Wandel der Mensch-
heitspsyche wie deren Schatten begleitet. Die Ursache von
aller Formveränderung und allem neuen Stil ist letzten
Endes das neue Erlebnis.

Wo solch ein neuer Wille mit den leer gewordenen
Kisten und Koffern aufräumt, da wird immer das neue
Erleben, dem die überlieferte Form eines Themas nicht
mehr genügt, um die neu daran entdeckten Seiten zu
offenbaren, unbedenklich zunächst immer nach einer
vorhandenen anderen Form greifen, die — mag das
Thema, dem sie angehört, noch so andersartig sein — doch
wenigstens einem psychisch-verwandten Grundmotiv starken
Ausdruck verleiht. Umgekehrt aber kann eine unvermutet
erblickte Form eine neue Erlebnisart offenbaren. Das eben
ist es, was ich mir bei Grünewald gedacht habe. Diese
Art, monumental zu sein und dennoch lebendig und wahr,
ohne Übertreibung zu erzählen, die muß jeden, dem so
etwas, wie Grünewald es später erreicht hat, vorschwebte,
wie eine befreiende Erkenntnis gekommen sein. Und wenn
er nun eine Passionsszene durchdachte und sie von ihrer

1) Vgl. hierzu Jac. Burckhardt, Beiträge zur Kunst-
geschichte von Italien II. S. 120/1. Dort würde auch die
R£zensentin eine Lösung ihrer Bedenken über die »Aus-
wahl« eines Teils aus dem »Vorbilde« an Hand einer
schönen Analogie finden: »Das Darstellen ganzer Zyklen
und Geschichten von der Büchermalerei bis zur Kirchen-
wand gestattete ein Bewußtwerden und eine Auswahl
des Wünschenswertesten.«
 
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