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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 29.1918

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Clemen, Paul: Die Zerstörung der großen kirchlichen Baudenkmäler an der Westfront
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https://doi.org/10.11588/diglit.6188#0254

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Die Zerstörung der großen kirchlichen Baudenkmäler an der Westfront

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die Gewölbeanfänger zusammengestürzt sind. Eine
Lücke von der Breite eines Hauses klafft jetzt in der
Langhausmauer. Der zweite Strebepfeiler auf der
Nordseite steht jetzt ganz frei in der Luft und ist
nicht mehr durch seinen Bogen mit der Obermauer
verbunden. Die Nordseite weist im übrigen natürlich
auch erhebliche Treffer von der deutschen Front aus
auf, so sehr sich die deutsche Artillerie während all
dieser Jahre auf bestimmte Weisung der Obersten
Heeresleitung hin bemüht hat, den Langhausbau zu
schonen. Bei einigen Fenstern sind die Scheitelbögen
herausgeschlagen. Bei dem vierten Strebesystem ist
der Strebebogen durchbrochen, der Pfeiler beschädigt.
Am Chorumgang sind zwei Strebesysteme verletzt,
ein Treffer ist durch eine der Seitenkapellen in das
Innere geschlagen und hat einen der Spätrenaissance-
altäre zum Teil zerstört. Auf der Südseite, also wieder
nach der französischen Front hin, weist die Kathedrale
zwei große Einschläge in der Obermauer des Mittel-
schiffs auf, die Teile der Fenster und des Triforiums
weggerissen haben.

Die Westfront der Kathedrale, die zuletzt nach
der französischen Front hin gerichtet war, hat während
der ganzen vergangenen Monate und endlich noch
in der am 18. Juli begonnenen Beschießung eine
Menge von Treffern erhalten. Der Pfeiler zwischen
dem Mittelportal und dem rechten Seitenportal ist von
Südwesten her fast durchgeschlagen, die zierliche
Balustrade darüber war schon bei den früheren Be-
schießungen zerstört. Der nordwestliche Strebepfeiler
der Front ist von Nordwesten her schwer verletzt,
die obere Galerie in der Mitte zerrissen. Die reiz-
volle Gruppe des Kapitelsaals ist im wesentlichen
noch erhalten; nur das Maßwerk der beiden Südfenster
war herausgeschlagen und natürlich alles Glas zer-
sprengt. In dem einen Kreuzgangflügel hatte ein
schwerer Volltreffer drei Joche fast völlig zerstört.
Das waren die Beschädigungen bis zum Beginn der
Fochschen Gegenoffensive — aber dazu kommen noch
die Zerstörungen durch das wütende französische Bom-
bardement, das das Zentrum der Stadt mit Granaten ab-
gestreut hat, und zuletzt, seit wir wieder vor Soissons
liegen, durch unsere Artillerie. Wieder hat der Turm
am schwersten zu leiden gehabt (diese Zerstörungen
habe ich nicht mehr persönlich feststellen können).
Die französische Denkmälerverwaltung hat sich er-
sichtlich bemüht, das Innere so weit zu schützen,
wie es in ihren Kräften stand. Sie hat die spät ge-
lernten Schutzmaßregeln hier angewendet, die im An-
fang des Krieges in Reims so offensichtlich und ver-
hängnisvoll versäumt waren. Der Hochaltar mit den
beiden mächtigen Marmorstatuen der Verkündigung
und die sämtlichen Skulpturen der Renaissancealtäre
sind unter Sandsackpackungen verschwunden, die wir
ergänzt, und wo sie zusammengestürzt waren, wieder
aufgerichtet haben. Aber sie hat doch nicht durch
eine rasche Auszimmerung und Abstützung dem Zu-
sammenbruch jener Nordwand Einhalt tun können.
Dafür ist quer durch den Bau, das Langhaus von
dem Querschiff abtrennend, eine niedrige Mauer mit
Entlastungsbogen gezogen, über der der ganze Bogen

dann in einer leichten Auszimmerung geschlossen ist.
Es ist so aus Querschiff und Chor ein eigener neuer
Kirchenraum geschaffen worden. Das dem Rubens
zugeschriebene Altarbild mit der Anbetung der Hirten,
die Glasfenster, die Tapisserien und die sonstigen
Kostbarkeiten sind rechtzeitig geborgen worden.

Die Kathedrale weit überragend erhebt sich in
den ehemaligen Weinbergen die prachtvolle zwei-
türmige Front der alten Abtei Saint-Jean des Vignes
mit ihren 75 Meter hohen Türmen, eine der groß-
artigsten Fronten, die uns aus dem 13. Jahrhundert
in das nächste hinüberleiten, eine der ganz wenigen,
die in Frankreich in diesem Zeitalter des gigantischen,
das Vollbringen übersteigendenBauwillensdiesteinernen
Hauben wirklich erhalten haben. Auch hier hat die
französische Revolution schon als die große Zerstörerin
gehaust und das ganze Langhaus der Kirche mit dem
Hauptteil der Klostergebäude vernichtet, so daß heute
diese Front allein in die Luft ragt. Hier haben die
Türme schon während der ersten Kriegsjahre schwer
zu leiden gehabt. Der Südturm hatte schon im Jahre
1915 seine Spitze verloren, jetzt aber zeigt die Front
von Nordwesten und von Westen neue große Ein-
schläge. Ein mächtiger Volltreffer ist von oben in
den Westbau zwischen den Türmen einpassiert und
hat beide Gewölbe zerschmettert. Die Strebepfeiler
sind an verschiedenen Stellen getroffen, aber vor allem
ist jetzt von Westen her der untere Teil der Fassade
schwer verletzt; alle drei Portale haben ihre Giebel
verloren; auch von den feingliedrigen Skulpturen,
denen Fernand Blanchard eine eingehende Unter-
suchung gewidmet hat, haben einige erheblich gelitten.
Auch hier hat die doppelte Beschießung der letzten
Wochen das Zerstörungswerk vollendet.

Die schöne Kirche der Abtei St. Leger, das dritte
Hauptdenkmal des 13. Jahrhunderts in der Stadt, die
ihre Chorseite der Aisne zuwendet, war in ihrem reich-
gegliederten frühgotischen Ostteil im ganzen bis zuletzt
noch leidlich erhalten, nur an der Nordostecke des
Querschiffs saß ein schwerer Volltreffer, der hier den
Strebepfeiler und das Türmchen zerschmettert hat. Von
dem erst im 18. Jahrhundert hinzugefügten Turm hat
eine Granate größten Kalibers die ganze Rückseite
abgerissen, sie auf das Mittelschiff gestürzt und hier
anderthalb Joch zerrissen. Wenn auch schwerverletzt,
so stehen diese drei großen Monumente doch noch
aufrecht, noch ist ihre Erhaltung, ihr Wiedererstehen
möglich — wie lange noch?

Endlich Laon! Seit Ostern 1918 lag die Stadt
unter dem Fernfeuer der schweren französischen
Artillerie. War es im Anfang nur eine gelegentliche
Beschießung, dann der bei den Franzosen so beliebte
Abendsegen, so hat seit dem Pfingstfest ein immer
mehr sich steigerndes Bombardement eingesetzt, das
zunächst den Bahnhof mit seinen Nebenanlagen zum
Ziel genommen hat, sich dann aber ziellos auf die
ganze Stadt, auch die hochgelegene Oberstadt, aus-
gedehnt hat. In den letzten Tagen vor der Uber-
raschung des 17. Mai nahm die Heftigkeit der Be-
schießung zu, die geängstete Bevölkerung verschwand
in die Keller und Katakomben. Die Franzosen haben
 
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