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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 29.1918

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Mitteilungen aus ausländischen Kunstzeitschriften
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https://doi.org/10.11588/diglit.6188#0263

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Mitteilungen aus ausländischen Kunstzeitschriften

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nur eine niedrige Schranke. Als die Ikonen an Zahl
zunahmen, beschloß man, sie an dieser Scheidewand
aufzuhängen, weil man das nicht an den mit Malereien
geschmückten Wänden und Pfeilern tun konnte. Erst
war es eine Reihe von Ikonen, dann vier oder fünf,
und anstatt einer niedrigen Schranke kam allmählich
der große Ikonen-Träger in massivem Holz, der end-
lich bis zum Gewölbe reichte, wodurch die völlige
Scheidung zwischen Priester und Laien zustande kam.
Die Entwicklungsgeschichte erinnert an die des deut-
schen Altarstückes mit Flügeln. Nach kleinen An-
fängen erreichten auch diese zu Ende des Mittelalters
einen kolossalen Maßstab.

Auch in der Ikonographie gibt es eine Evolution.
Vom 14. Jahrhundert an nimmt die Madonna einen grö-
ßeren Platz in den Darstellungen ein, die Illustrationen
der »Hymne akathiste« nehmen zu. Unter Iwan dem
Schrecklichen kam der apokalyptische Zyklus der Wie-
derkunft Jesus in den Vordergrund. Im 15. Jahrhundert
brachte der Einfluß des polnischen Katholizismus neue
Darstellungen auf, wie z. B. die Krönung Marias. Im
allgemeinen kann man sagen, daß die russisch-by-
zantinische Ikonographie nicht mehr so in Fesseln ge-
legt ist wie die katholische. Man kann die russische
Ikonenmalerei nicht mit der westlichen Kunst ver-
gleichen, weil ihre Maler nicht dieselben Probleme
zu lösen versuchen. Vom 15. Jahrhundert an streben
die westlichen nach der Darstellung des Raumes, die
russischen bleiben beim Schmuck der Oberflächen. Sie
kümmern sich nicht um Anatomie, Perspektive und
Dimensionen; sie machen Silhouetten und schematische
Landschaften und sind eigentlich Kalligraphen und
Illuminatoren. Von diesem Standpunkt aus stehen sie
den griechischen Vasenmalern und den japanischen
Holzschneidern viel näher als den westlichen Malern,
und diese Übereinstimmung kann einen nicht wundern,
wenn man bedenkt, daß durch Vermittlung der griechisch-
budhistischen Kunst Indiens und Chinas die japanische
ebenso wie die russisch-byzantinische Kunst sich an
dem gemeinschaftlichen Brunnen, der hellenischen
Kunst, genährt hat. Der Vorteil der abstrakten Künste
ist, daß sie, nicht durch Naturbeobachtung abgeleitet,
eher einen Stil erreichen, und das ist es gerade, was
die altrussische Kunst nach dem Verfasser zu einer
großen Kunst macht. Man unterscheidet in der alt-
russischen Malerei drei Perioden. Die erste Kiewsche
Periode, so genannt nach der damaligen Hauptstadt
Rußlands, läuft vom 11. bis zum 13. Jahrhundert. Die
Mosaiken und Fresken in der Kathedrale von Kiew
(1040) sind die ältesten Denkmäler russischer Malerei.
Sie sind jedoch 1848 so schlecht restauriert worden,
daß sie heutzutage nur noch ikonographisches Inter-
esse haben. Diese erste Periode bietet nicht viel Inter-
essantes, weil nationale Eigentümlichkeiten fehlen. Die
russische Kunst hat sich erst in der zweiten, Novgorod-
schen Periode zu großer Blüte entwickelt. Schöne
Ikonen aus dieser Zeit enthält die Sammlung Ostro-
oukhov, und mehrere davon findet man in dem Auf-
satze abgebildet. Zwei große Künstler, Andreas Roub-
lev und Meister Dionysius, treten aus der Menge der
unbekannten Maler von Novgorod in den Vordergrund.

Man nimmt an, daß Andreas Roublev, der auch wohl
der russische Fra Angelico genannt wird, ungefähr 1370
geboren wurde, Mönch im Kloster Andronov in Moskau
war und dort unter der Leitung des berühmtesten Mei-
sters dieser Periode, Theophanes des Griechen, gear-
beitet hat. Von seinen Werken existiert nur noch die
Ikone der Dreieinigkeit in der »Dreieinigkeitskirche
des hl. Sergius« unweit Moskau. Das merkwürdigste
Monument, zu gleicher Zeit das letzte Meisterwerk der
novgorodschen Schule, bilden die im Jahre 1500 aus-
geführten Fresken der Klosterkirche von Theraponte,
vom Meister Dionysius und seinen beiden Söhnen,
die 19t 1 von Gorgievski veröffentlicht worden sind.
Unter Moskowitischer Periode versteht man die Zeit
des 16. und 17. Jahrhunderts, in welcher Moskau Nov-
gorod besiegte und die größte Macht Rußlands ge-
worden ist. Die Malerei kam in dieser Zeit in Verfall
und die Hauptursache der Entartung des idealistischen
novgorodschen Kunst waren die Einflüsse des West-
lichen oder Franken (Friar) durch Vermittlung von
Polen und Deutschland. Die orthodoxe Kirche wider-
strebt der westeuropäischen Darstellungsweise, aber ver-
gebens. Die neuen Tendenzen sieht man deutlich in den
Werken des bekanntesten altrussischen Malers nach Rou-
blev, bei Simon Ouchakov. In der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts lebt die Freskenmalerei zum letzten
Male wieder auf, aber nicht in Moskau, sondern in
Jaroslavl, Rostow und Kostroma. Die Menge von
Fresken, die von 1670 bis 1695 in diesen Städten
ausgeführt sind, ist unglaublich groß, aber ihre Qualität
stimmt nicht mit der Quantität überein. Die byzan-
tinischen Handbücher genügten diesen Malern nicht
mehr und so suchten sie sich andere Vorbilder. Viel
haben sie dem »Theatrum biblicum« von Jan Visscher,
gewöhnlich Piscator genannt, herausgegeben 1650 in
Amsterdam, entliehen, ohne aber ihre Vorbilder zu
kopieren, sondern indem sie dieselben russisch machten.
Für die Szene der vier apokalyptischen Reiter haben
sie den berühmten Holzschnitt Dürers benutzt, aber
den Flüchtenden haben sie Tatarenmützen aufgesetzt.
Ihr naiver Nationalismus zeigt sich auch in den Dar-
stellungen des Jüngsten Gerichtes. Die Verurteilten
werden in drei Gruppen verteilt, Juden mit eckigen
Mützen, Araber mit dem Turban und Deutsche mit
Filzhüten. Die Inschriften bestätigen diese Deutung der
Figuren. Die Auserwählten dagegen tragen alle rus-
sische Kleider. Diese Fresken von Jaroslavl sind die
letzte große Äußerung der altrussischen Kunst. Kurze
Zeit später hat Peter der Große dieser Verfallskunst
den Gnadenstoß gegeben, indem er westeuropäische
Künstler nach Rußland kommen ließ, die dort die
Malerei nach dem Leben und in der Ölfarbtechnik ein-
führten. Man soll aber nicht behaupten, daß Peter
der Große die alte Malerei getötet hat. Im Anfang
des 18. Jahrhunderts war sie bereits ein Anachronis-
mus, fünfzig Jahre vor der Gründung Petersburgs
war sie schon tot und der große Zar hat also nur
einen Leichnam getötet. Seither ist die Ikonenmalerei
ein religiöses Handwerk geworden. Viele und schöne
Abbildungen sind dem Aufsatze von Reau beigefügt.

V.
 
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