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Kunstgeschichtliche Gesellschaft zu Berlin [Hrsg.]
Kunstchronik und Kunstmarkt: Wochenschrift für Kenner und Sammler — 55.1919/​1920 (Oktober-März)

DOI Heft:
Nr. 23 (5. März 1920)
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Wölfflin, Heinrich: Qui tacet consentire videtur
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https://doi.org/10.11588/diglit.29588#0495

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KUNSTCHRONIK UND KUNSTMARKT

HERAUSGEBER: GUSTAV KIRSTEIN

BERLINER REDAKTION: CURT GLASER WIENER REDAKTION: hans tietzb

NR.23 5. MÄRZ 1920

QUI TACET CONSENTIRE VIDETUR

LEDIGLICH aus diefem Grunde ergreife idh nodi einmal das Wort, um
auf den Auffatz von H. Voss zu antworten, der unter demTitel: »Künft-
lergefdiidite oder Kunftgefdiidite ohne Namen?« eine Entgegnung auf meine
allgemeinere Auseinanderfetzung in Nr. 20 der Kunftdironik gefdirieben hat.

Der Gegenfatz unferer Auffaflung liegt ganz klar in diefem Titel aus-
gedrüdtt: »Künfllergefdiidite oder —«. Ich fehe hier kein »Entweder —
oder«, fondern zwei Betrachtungsweifen, die einander koordiniert find wie
eben Analyfe und Synthefe. Voss will die fynthetißhe Kunftgefchidite <die
»verallgemeinernde«) zwar audi gelten laflen, aber doch nur an untergeord*
neter Stelle, und er unterftreicht die Gefahren jeder Synthefe gegenüber der
allfeitig befchreibenden Darfteflung, der er allein den Namen Gefdiidite vor-
behalten wiflen will. Aber es gibt auch Gefahren bei diefer »eigentlichen«
Gefchichte, nämlich: daß das Wefentliche des hiftorifchen Prozelfes gar nidht
recht fichtbar wird. Darum meine ich: die fynthetifche Gefchichte ift nicht
eine abgekürzte »holzfdhnittmäßige« Form der Erzählung zur Erleichterung
des Verftändnifles, fondern ihre befondere Aufgabe <ich fpreche rein theoretifch
und nidvt von einzelnen beftimmten Büchern) befteht darin, die allgemeinen
Begriffe herauszubilden, die der auf das Einzelne gerichteten Forfchung leicht
verborgen bleiben. Erft wenn diefe allgemeinen Begriffe — feien es Ent-
wicklungsbegriffe oder die großen Anfchauungsformen von Zeiten und VöL
kern oder was immer — erft wenn diefe allgemeinen Begriffe dem Stoffmaterial
einverleibt worden find, kann »Gefchichte« in unferm Sinne entftehen.

Und nun ift es wohl wahr, daß abfchließende Synthefen nidit möglich
find ohne vollftändige Kenntnis der Tatfachen. In allen Difziplinen aber hat
man von Zeit zu Zeit vorgreifende Synthefen zu madhen gewagt. Wenn
fpäter auf Grund neuer Tatfachen eine Modifikation nötig wurde, fo beweift
das noch nichts gegen das Unterfangen als folches: es kann dennoch fruchtbar
gewirkt haben. Damit will idi beileibe nicht der leichtfertigen Synthefe das
Wort reden, und ich gebe gern zu, daß der befcheidenfte Beitrag zur Felt-
ftellung des Tatfächlidien wertvoller fein kann als eine noch fo großartige
Gefchichtskonftruktion, die keine Realität hinter fich hat.

H. WÖL TTLIN.
 
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