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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,4.1910

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Heft 24 (2. Septemberheft1910)
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Avenarius, Ferdinand: Vorkämpfer-Werke und Begleiterwerke
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Rath, Wilhelm: Marie von Ebner-Eschenbach: zu ihrem achtzigsten Geburtstag
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https://doi.org/10.11588/diglit.9020#0423
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kaum dafür, daß unsre Kritik ästhetischer Werte ihre Aufgabe überall
richtig betreibt. Snob tanzt, eh er gehen kann. Oder wenigstens:
tänzelt, denn festen Boden hat er ja nie. Ihm wird vorgepfiffen, und
so lange die Pfeife tönt, „weiß" er, was wertvoll „ist". Schweigt sie,
dreht er sich nach ihrer Melodie noch eine Weile im Kreise, bis irgend-
eine neue ihn anderswie drehen macht. Im Gange der Kulturentwick-
lung bedeutet das einen Narrenreigen, nicht mehr. Sind wir Kunst-
schreiber uns über dies Wesen klar, sollt es uris, meine ich, unsrer
Arbeit unwürdig erscheinen, dazu aufzuspielen oder wir begnügen
uns mit der Rolle von Nouveautss-Vertreibern, wo wir Kulturarbeiter
sein könnten. Nouveautss und Neuwerte sind ja wirklich nicht immer
dasselbe, und auch unter den Neuwerten gibt es Werte und Wertchen.
Wo das Leben Neublut bilden kann, dahin zu weisen und immer
wieder zu weisen, das ist unsrer Arbeit eine große Aufgabe. Die
zweite aber: dafür zu sorgen, daß unsre Kultur mit allen Trage-
mauern solid bleibt, auf die und an die gebaut werden soll. A

Marie von Ebner-Eschenbach

Zu ihrem achtzigsten Geburtstag

^^.atur ist Wahrheit; Kunst ist die höchste Wahrheit." So steht's
/ in Marie von Ebner-Eschenbachs Aphorismenbuch. Die ganze
- ^ ^-Persönlichkeit der Dichterin lebt in dem knappen Wort. Man
muß sie nur herausholen; denn schließlich könnten auch andere, und
manche sogar gleichfalls mit Berechtigung, den Spruch für ihrer
Art gemäß erklären.

Wie Marie Ebner des näheren über die Steigerung des Natur-
gegebenen durch die Künstlerarbeit denkt, das hat sie zu vielen Malen
ausgesprochen; nirgends wohl mit bemerkenswerterer Klarheit als
im „Bertram Vogelweid", da der vielerfahrene Schriftsteller dem
grünen Äbermenschling seine Ansicht vom Talent einprägt: „Talente
laufen zu Hunderten auf der Gasse herum. Pferde, Hunde, Ferkel
haben Talent. Talent, mein Lieber, ist viel und nichts. Was du
daraus machst, und was dieses »Du« für ein Ding ist, darauf kommt's
an. Zuerst mach du dich, dann wirst du vielleicht etwas machen
aus deinem Talent!"

Diese Dichterin hat von früh auf an ihrem Ich gearbeitet und
alles Schaffen aus dem reifenden Ich, mit ihm entwickelt. Nnd es
erwies sich, erweist sich noch heut und künftig in ihren Büchern,
daß in diesem Falle das Ich wahrlich der Mühe lohnte, also daß
auch das mitgeborene Talent zur vollen Entfaltung aller seiner
Keime Hinaufgepflegt wurde. Ihr menschliches Streben ging immer
entschiedener, immer sicherer darauf hinaus, das Wahre der seelischen
Natur durch allzu menschliche Trübungen hindurch zu sehen. Als
Künstlerin strebte sie in Treuen danach, das so Erschaute auf solche
Art zu läutern, daß die Wahrheit noch reiner als in der Zufalls-
wirklichkeit hervortrat und dadurch allein — nicht durch lügnerischs
Zierkunst — zugleich Schönes gestaltet wurde.

Manchem mag dies Schöne hie und da, ausnahmeweise, doch mil-
deren Glanz zeigen, als er selber im wirklichen Menschenleben zu

^ 2. Septemberheft WO 3^7
 
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