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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,1.1910

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1910)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9031#0051
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die Reimlehre noch immer in den
alten Geleisen. Sie ist primitiv,
auf die gröbsten Anforderungen zu-
geschnitten, sie genügt nicht mehr.
Heutzutage reimt sogar ein gescheiter
Dilettant besser und zum Teil an-
ders als es die Reimlehre weiß.
Es ist aber durchaus nicht gleich-
gültig, wenn die Erkenntnis, statt
der Praxis den Weg zu erleuchten,
der Praxis nachhinkt oder gar außer
Gesichtsweite hiuter ihr stehen-
bleibt. Zwar der Dichter selber, so
meint man wenigstens, bedarf der
Erkenntnis nicht, denn er trifft mit
unfehlbarem Instinkt das Richtige.
Ich persönlich glaube, er bedarf ihrer
zwar am Montag bis Donnerstag
nicht, aber bedarf ihrer am Frei-
tag; weil nämlich ein Dichter an ver-
wünschten Tagen mit unfehlbarem
Instinkt das Unrichtige trifft. Ieden-
falls kann es nie schaden, wenn einer
weiß, was er tut. Lassen wir das
dahingestellt; jedenfalls bedarf der
Genießende, insofern er urteilt (und
unwillkürlich urteilt ja jeder Ge-
nießende) und ganz dringend bedarf
der Kritiker der klaren Einsicht.
Sonst kann es ihm begegnen, daß
er dem Schaffenden Vorzüge als
Fehler aufmutzt. Und das begeg-
net ihm auch wirklich. Ich könnte
hiefür merkwürdige Beispiele anfüh-
ren. Allein wozu Beispiele? So
ziemlich alle Welt urteilt ja: der
Reim stimmt, folglich ein guter
Reim; der Reim stimmt nicht, folg-
lich ein schlechter Reim. Natürlich,
man hat es ja so gelernt.

Diese alte Theorie nun, die da
meint, daß es beim Reim einzig
auf den Abereinklang und immer
auf den Abereinklang ankäme, ist
falsch. Was die Verslehre für einen
guten Reim ausgibt, gilt dem Dich-
ter höchstens für einen genügenden
Reim. Ein genügender Reim ist
aber noch lange kein guter, sondern
er ist an den meisten Orten für

einen guten Reim zuwenig und an
einigen wenigen Orten für einen
guten Reim zuviel. Die Reimlehre
ist überhaupt anders anzufassen.

Vor allem muß ihr die Einsicht
dämmern, daß man nicht einerlei
reimt, sondern in verschiedenen
Kunstformen, vcrschiedenen Stil-
arten, verschiedenen Gefühlstönen
verschieden, daß was an der einen
Stelle ein Vorzug, an einer andern
Stelle ein Fehler ist. Man reimt
eine Satire anders als einen Ge-
fühlserguß, einen getragenen, hoch-
gehobenen Vers anders als ein
Lied. Ein Lied mit reinen, tadel-
losen, wohlklingenden Reimen wäre
ein schlecht gereimtes Lied; hier sind
Ungenauigkeiten, also vermeintliche
„Fehler" Vorzüge; während wieder-
um eiu pathetischer Gefühlserguß
die größte Vollkommenheit sowohl
hinsichtlich der Klangfülle wie der
Reinheit verlangt. Sodann muß die
wichtige Wahrheit gewußt werden,
daß es beim Reim keineswegs bloß
auf den Klang ankommt. Der Dich-
ter sieht sich bei seinem Reim vor
die Aufgabe gestellt, noch eine
Menge anderer Dinge zu berück-
sichtigen und mit der Gefühlswage
abzuwägen. Ich will einige davon
nennen: Es kommt zum Beispiel
auf die Betonung, auf den Akzent
an, welchen ein Reimwort im Satz
hat. Es gibt tonlose, schwachbetonte,
matte, und es gibt stark betonte,
scharf betonte und zudringliche
Reime; ja, es gibt sogar scheinbare
Reime; und, wohlverstandcn, alle
haben an ihrem Ort ihre Berech-
tigung. Ls kommt ferner auf den
grammatischen Wert des Wortes
an, das man in den Reim setzt. Ein
Zeitwort, ein Hauptwort schafft
eiuen ganz anderen Reim als ein
Fürwort oder ein Adjektivum. Es
ist auch nicht dasselbe, ob ich beim
nämlichen Klang ein Zeitwort in der
Vergangenheit mit einem andern

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