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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,1.1910

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Heft 4
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.9031#0336
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die Fenster wehet Wind und Regen ein. Arm ist der Heiland von Erlau
gewest, so viel, viele Iahr.

Doch seiner Armnt tiefste Not machet Moder und Staub nit und
nit der Regenguß, der über die Wänd Schimmel und Schwamm ge-
säet. — Der fahrend Bettler findt in der Elendherberg ein' andern, mit dem
er sein Herz teilt, nnd ist dann die wegmüde Brust des Leides bar, das
ihr die Landstraß angetan, so findt sich auch das tröstlich Wort. Der
fronend Baur, kummt er gleich müd heim und ist sein Leib von Schweiß
bedeckt und jeweils von Striemen, die Kindlein sperren ihm die hungrigen
Mäuler entgegen nnd er stopft sie. Hat Weib und Aachbarn, ist seine
Last anch schwer, müssen doch alle tragen. — So sehet nun den Heiland. Er
ist allein gehangen. Hat eure Not gewnßt, hat eure Last gefühlt, hat ein
Herz voll Lieb und Trost getragen und durfts nit teilen. Die Tür war
zu, das Schloß ersticket im Rost, stumm blieb die Glock, so nit ein Krähen-
flügel sie summen machet.

Kannst du dir ein ärmer Ding fürstellen, Erlauer Bauer, als ein
Herz, vor Mitleiden und Tröstlichkeit springvoll, umringt von Mühsal und
Lränen, und selbiges Herz muß stumm am Kreuze hangen Iahr um Iahr
und darf von seinem Trost nit geben. Kannst du dir einen ärmeren Hei-
land fürstellen, als der Erlauer Heiland ist gewest?"

Mein Vater schwieg eine Weil. Und lauter drang die tausendstimmig
Orgel herein. Reget sich kein Mensch, so voll die Kirch war. Sie saßen
all mit weiten, verdutzten Augen.

„Wohl war und ist der Heiland auch anderorts der arm Mann. Ehe-
dem hat der römisch Antichrist ein gulden Gewand um ihn gehangen
und ihn dann beiseit gestellt als wie eine feierliche, stumme Docken; dann
aber hat Wittenberg, als des Doktor Martin und Philipp Schwerter vor
die Zeit gesunken warn, ,dem Heiland all sein Gewand entrissen. Dort
steht er zu Wittenberg wie ehedem an der Prangersäul und sie steupen ihn
mit hartknotigen Lehrsätzen und drucken ihm die Dorn ihrer spitzfindigen
Oisputationsn in die duldsamen Schläfen. Der Heiland ist der arm Mann
in Meißen nnd Dräsn, in Leipzig und Torgau. Er steht am untersten
End der Tafel, da die Fürsten und Herrn hofiren. Sie winken ihm ge-
lassen zu: »Laß gut sein! Du hast unsern Sack gefüllt, wir wölln schon
für dich sorgen — heißt, insoweit es Staatsräson verträgt!«

Und auf dem Land? Da schweigen die Glocken. Was Wundcr! SteHet
nit geschrieben: »Im Anfang war der hurtig Griff!« Sack ein, du Herre
und Patron, greif zu! Was ehedem römisch Pfaffengut und zum Kirchl
gehört, ist frei. Das Wort ist all gen Wittenberg und in die Städt ge°
fahrn, dort steht es feist wie Nnkraut auf der Brache.

Und der hungrig Boden auf dem Land? Dünket er euch nit dreifach
gepflügt von Baurenqual? Ist er nit wohlgedüngt mit Blutschweiß und
vom Regen der Armutszähren satt? Schreit nit des Bauren Herz nach
dem Korn der Ewigkeit, da ihm die zeitlich Frucht durch müde Finger in
fremde Speicher rollt?" —

Ich spüret, wie sich ihre Herzen mit bitterm Brande füllten. Die Luft
ward von ihrem Atem heiß und bebend. Ihre Händ ballten sich, als müß-
sie ein jed Wort bis auf den letzten Hauch auspressen. Dieweil mein Herr
Vater zum andern Mal innehielt, schwoll der Drang so mächtig, daß mir fast
die Sinne schwanden. Da fiel seine Stimm wie ein sausend Schwert:

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Kunstwart XXIV,
 
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