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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,1.1910

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Heft 5 (1. Dezemberheft 1910)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9031#0474
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Die Zerrgebilde der Philologen in
den „Buddenbrooks", in „Professor
Anrat", in „Freund Hein" nsw. hal--
ten das sinnlose, hirnverbrannte
Vornrteil lebendig: der Volksschul--
lehrer leiste im Unterricht mehr als
der Akademiker. In einer regelrecht
aufgebauten Erzählung von heutzu-
tage spielt der stets unpraktische,
weltfremde Professor neben dem nn°
fehlbar weisen Elementarlehrer eine
minderwertige Rolle. Dieser rät
dem Genie (auch ein sonderbarer
Typus, über den zu reden leider jetzt
nicht Gelegenheit istü) regelmäßig
zum Guten: er, nur er, erkennt den
Helden, den Künstler der Zuknnft
im Knaben. Iener, ebenso lebens-
unerfahren als lehruntüchtig, ver-
kennt alle Keime des Großen, sträubt
sich gegen alles Vernünftige und be-
trägt sich überhaupt derartig kläg-
lich, daß er verdiente, mit Schimpf
und Schande aus seinem Amt gejagt
zu werden — nnd aus der schön-
geistigen Literatur zu verschwinden.

Wie das Anfwuchern und Um-
sichwuchern eines solchen Rnver-
standes nur möglich ist — bei der
Zeichnung von Thpen, bei der
Verkörperung zweier Gruppen
von Menschen, zweier ganzer
Stände? Wie liegen die tatsäch-
lichen Verhältnisse? Stellen sie dem
Wirklichkeitssinn und der Beobach-
tungsfähigkeit nnserer Roman- und
Novellendichter ein rühmliches
Zeugnis aus? In Preußen regeln
sie sich folgendermaßen (in den an-
deren Staaten ähnlich). Der künf-
tige Volksschullehrer bezieht nach
Ableistung seiner Schulpflicht die
Präparandenanstalt und darauf drei
Iahre das Seminar. Etwa ein Iahr
nachdem ein gleichaltriger Ghmna-
siast seine Reifeprüfung bestanden
hat, ist der Volksschullchrer mit
seiner Ausbildnng auf öffentlichen
Lehranstalten fertig und auf seine
eigene Weiterbildung angewiesen.

Der Akademiker studiert vier bis
fünf Iahre, wenn nicht mehr, an
einer Hochschule; in der Staatsprü-
fung hat er sich darüber auszu-
weisen, daß er mit Erfolg aka-
demische Vorlesnngen über Päda-
gogik gehört und sich didaktische
Kenntnisse angeeignet hat. Dann
wird er volle zwei Iahre
durch die bewährtesten
Professoren eines Ghm-
nasiums oder Realghm-
nasiums praktisch ange-
leitet, ehe er sein Zeug-
nis in Empfang nimmt,
das ihm seine einstige An-
stellnng in Aussicht stellt.
Der Akademiker verwendet also an-
nähernd die gleiche, wahrscheinlich,
wenn man sich den Betrieb der
Unterrichtsknndc auf der Universität
in seiner heutigen Ausdehnung ver-
gegenwärtigt, mehr Zeit auf seine
pädagogisch-methodische Ausbildung
allein, als der Volksschnllehrer
überhaupt auf dem Seminar zu-
bringt. Dennoch ist dieses nicht das
Wichtigste, wodurch sich der Aka-
demiker von ihm unterscheidet. Lr
hat auf dem Ghmuasium unver-
gleichlich hervorragendere Meister
der Lehrkunst als Vorbilder zu Ge°
sicht bekommen, als sie die Volks-
schulseminarien dnrchschnittlich auf-
. weisen. Die Hochschule hat ihm das
Köstlichste, durch nichts anderes auf
der Welt zu Ersetzende für die un-
ablässige Vervollkommnung seiner
Anterrichtsführung mitgegeben: die
Fähigkeit, sich mit akademischer
Gründlichkeit in die Wissenschaft zu
vertiefen, sie selbst und damit alle
auftauchenden Fragen des Mensch-
lichen und Aberirdischen aus eigner
Kraft zu beurteilen und die Neu-
ergebnisse mit seinem Lebensgehalt
und Unterrichtsstoff organisch zu
verschmelzen: Darum, wegen ihrer
Kenntnis von dem Nutzen aka-
demisch wissenschaftlicher Abung für

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