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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,1.1910

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1910)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9031#0524
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So denken im Grunde die
großen Mehrheiten der Leserwelt.
Nicht nur der Bescheidenen, auch
der Stolzen im Geist, und die
Stolzen dieses Mal erst recht. Es
ringt einer in leidenschaftlichem
Kampfe zwischen dem, was Kopf
und Herz ihm sagt, und dem, was
seine Klasse, seine Freundschaft und
Familie, was die eigne Erbschaft
und Erziehung mit ihren Folgen
chm sagen. Werke, strotzend von
Lebenssaft und drohend von Ernst
winden sich als Bekennerzeugnisse
von chm los. Und: man findet
sie interessant, geradezu fesselnd, ja
aufregend, vor allem: „apart" —
man bewertet Tolstoi, wie man das
so nennt: „ästhetisch", in Wahrheit
oberflach, nicht auf das hin, was
hier aus den Tiefen herausdrängt
und sich mitteilt, sondern darauf-
hin, was hier prickelt und in Far-
ben schäumt. Also gerade auf das
hin, was Tolstoi verachtete. Da-
mals noch nicht, als er berühmt
wurde. Aber mittlerweile ward,
der seine Ideen innerlich erlebte,
noch nicht vollkommen, aber mehr
und mehr zu einem, der sie auch
darlebte, zu einem Verkörperer
dessen, was er prophezeite. So
nahm ihn die feine Welt als eine
Art von Kuriosum und Monstrum
von einem pikanten und beinahe
perversen Reiz: sie liebte ihn nicht
ganz unähnlich der jetzt wieder so
modischen Dame, die für den wil-
den Iohannes schwärmt. Man
stelle sich Tolstoi den Greis in
einem Salon vor von Berlin Vp,

tungen sogar fertiggebracht hat,
von Tolstois Weltflucht als von
einer „Neklame" zu reden, weil
seine letzten Bücher nicht mehr
recht „gingen", das mag ich nur
in einer Futznote erwähnen: ver-
zeichnet werden muß aber dieser
Tiefpunkt der Erbärmlichkeit auch.

2. Dezemberhest M

um die Lächerlichkeit dieser Art
von Tolstoigemeinden im Blitzlicht
zu sehn. Alles, was sein christ-
licher Anarchismus predigte, schlug
ihnen in die Gesichter, keinem ein-
zigen seiner Gedanken lebten sie
nach, mit keinem einzigen davon
setzten sie sich ernsthaft auseinander
— aber trotzdem, es bleibt dabei:
sie „genossen" ihn.

Und doch ist es unrecht, über
das Lächerliche bitter zu sprechen.
Auch unter denen vom Astheten-
Snob mögen Suchende sein, die
nach Wärme tasten, wo sie den
Lichtern nachgehn; die mit heim-
lichem Frösteln die Kälte ihres
Daseins empfinden, wenn sie sich an
der Pracht Tolstoischer Flammen
weiden. Der war ein grotzer Fühler,
ein großer Denker war er nicht. Als
Denker war er kaum viel mehr, als
einVerbreiter fremdcr undmeistalter
Ideen, dadurch aber, daß er sie mit
der Leidenschaft einer den ganzen
Menschen umformenden Äberzeugt-
heit und mit der Stoßkraft rück-
sichtsloser Einseitigkeit verfocht,
wirkte er im Slawentum wie ein
Prophet und zwang er, man darf
schon sagen: die Welt zum Auf-
horchen auf diese Ideen. Die Hohl-
heit, die Verwerflichkeit von hun-
derterlei, was in Macht und Glorie
waltet, das auch für blödsichtige
Augen aufzrrdecken mit Zorn und
tzohn, das konnte er, das tat er.
Seine Gesellschaftskritik wird an
Eindringlichkeit nnd Energie sicher
von der keines Mitlebenden erreicht.
Aber er sah die Werte nicht, die
bei der Verwirklichung seiner Ideen
zusammen mit den Änwerten zer-
brochen würden. Der Zivilisations-
hasser ward zum Kulturfeind, wäh-
rend einer Gesellschaft, die sich in-
folge ihrer inneren Spannungen
entfalten muß, entwickeln muß,
doch gar keine Wahl bleibt, als:
Zivilisation aufzunehmen, um sie im

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