Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Maeterlinck, Maurice; Oppeln-Bronikowski, Friedrich von [Übers.]
Der Schatz der Armen — Florenz, Leipzig, 1898

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.37324#0014
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
blicken den unsichtbaren und drängenden Geboten des Schweigens
widerstehen, haben wir einen ewigen Verlust erlitten, den die grössten
Schätze menschlicher Weisheit uns nie werden ersetzen können, denn
wir haben die Gelegenheit versäumt, einer andren Seele zu lauschen
und der unsren einen Augenblick des Lebens zu schenken; und es giebt
manch ein Dasein, wo solche Gelegenheiten sich nicht zweimal bieten ...
Wir sprechen nur in den Stunden, wo wir nicht leben, in den Augen-
blicken, wo wir unsre Brüder nicht bemerken wollen und uns weit
entfernt von der Wirklichkeit fühlen. Und sobald wir sprechen, sagt
uns etwas in unserm Innern, dass göttliche Thüren sich irgendwo
schliessen. Auch geizen wir so sehr mit dem Schweigen, und selbst
die Unbedachtesten unter uns schweigen nicht mit dem ersten besten.
Der Instinkt der übermenschlichen Wahrheiten, den wir alle haben,
bedeutet uns, dass es gefährlich ist, mit jemand zu schweigen, den man
nicht kennen zu lernen wünscht oder den man nicht liebt; denn die
Worte gehen zwischen den Menschen vorüber, aber wenn das Schweigen
nur einen Augenblick Gelegenheit gehabt hat, sich zu bethätigen, dann
ist es unauslöschlich, und das wahre Leben, das einzige, das eine Spur
zurücklässt, ist nur aus Schweigen gemacht. Denkt nur daran in jenem
Schweigen, zu dem auch ihr eure Zuflucht nehmen müsst, um es aus
sich selbst heraus zu erklären; und wenn es euch gegeben ist, einen
Augenblick bis in die Tiefen der Seele hinabzusteigen, wo die Engel
wohnen, werdet ihr euch, bei einem Wesen, das ihr innig liebt, in
erster Linie nicht der Worte erinnern, die es gesprochen, noch der
Gebärden, die es gemacht hat, sondern der Augenblicke des Schweigens,
die ihr mit ihm verlebt; denn die Eigenschaft dieses Schweigens ist
es, die euch einzig und allein die Eigenschaft eurer Liebe und eurer
Seelen enthüllt.
Ich berühre hier nur das aktive Schweigen, denn es giebt auch ein
passives Schweigen, das nur der Reflex des Schlafes, des Todes oder
des Nichtseins ist. Das ist das schlafende Schweigen, das, solange es
schlummert, immer noch weniger gefährlich ist als das Wort; aber ein
unerwarteter Umstand kann es plötzlich erwecken, und dann besteigt
seine Schwester, das grosse aktive Schweigen, den Thron. Seid auf
der Hut! Zwei Seelen werden sich erreichen, die Mauern weichen, die
Dämme einstürzen, und das gewöhnliche Leben einem Leben Platz
 
Annotationen