Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Maeterlinck, Maurice; Oppeln-Bronikowski, Friedrich von [Übers.]
Der Schatz der Armen — Florenz, Leipzig, 1898

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.37324#0015
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
machen, wo alles tragisch wird, alles wehrlos ist, wo nichts mehr lacht,
nichts mehr gehorcht, nichts mehr vergessen wird . . .
Und weil wir alle diese düstre Macht und ihre gefährlichen Spiele wohl
kennen, haben wir eine so tiefe Furcht vor dem Schweigen. Wir ertragen
im Notfälle noch das einsame Schweigen, unser eignes Schweigen; aber
das Schweigen mehrerer, das vervielfältigte Schweigen und namentlich
das Schweigen der Menge ist uns eine übermenschliche Last, deren
unerklärliches Gewicht die stärksten Seelen fürchten. Wir verwenden
ein gut Teil unseres Lebens zum Aufsuchen der Orte, wo das Schweigen
nicht herrscht. Sobald zwei oder drei Menschen sich treffen, denken
sie nur daran, den unsichtbaren Feind zu bannen, denn wie viele gewöhn-
liche Freundschaften sind lediglich auf dem Abscheu vor dem Schweigen
begründet! Und wenn es ihm trotz allen Anstrengungen glückt, sich
unter die versammelten Wesen einzuschleichen, dann werden diese
Wesen den Kopf unruhig jener feierlichen Seite der Dinge zukehren,
die man nicht sieht; dann werden sie bald auseinandergehen, dem
Unbekannten das Feld räumend, und in Zukunft werden sie einander
ausweichen, weil sie furchten, dass der hundertjährige Krieg noch einmal
vergeblich sein wird, und dass einer von ihnen vielleicht zu denen
gehört, die dem Gegner heimlich die Thür öffnen . . .
Die meisten von uns verstehen und lassen das Schweigen nur zwei-
oder dreimal in ihrem Leben zu. Sie wagen diesen unerforschlichen
Gast nur unter feierlichen Umständen bei sich aufzunehmen, aber fast
alle nehmen ihn dann würdig auf; denn selbst die Erbärmlichsten haben
in ihrem Leben Augenblicke, wo sie handeln, als ob sie bereits wüssten,
was die Götter wissen. Erinnert euch des Tages, wo ihr ohne Schaudern
eurem ersten Schweigen gegenüber tratet. Die schreckliche Stunde
hatte geschlagen und es trat vor eure Seele. Ihr sähet es die Abgründe
des Lebens überschreiten, von denen man nicht spricht, und die
Tiefen des inneren Schönheits- oder Schreckensmeeres, und seid nicht
geflohen ... Es war dies bei einer Heimkehr, an der Schwelle des
Abschieds, inmitten einer grossen Freude, am Bette eines Toten oder
am Rande des Unglücks. Gedenkt mir jener Minuten, in denen plötz-
lich alle verborgenen Edelsteine blossliegen und die schlummernden
Wahrheiten jähhngs erwachen; und sagt mir, ob das Schweigen zu
dieser Stunde nicht gut und notwendig war, ob die Liebkosungen des
 
Annotationen