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Maeterlinck, Maurice; Oppeln-Bronikowski, Friedrich von [Übers.]
Der Schatz der Armen — Florenz, Leipzig, 1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.37324#0016
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stets verfolgten Feindes nicht göttliche Liebkosungen waren? Den Kuss
des Schweigens im Unglück — denn sonderlich im Unglück küsst uns
das Schweigen — kann man nie mehr vergessen; und darum sind die,
welche ihn öfter erhalten haben als andre, mehr wert als diese andern.
Sie- allein wissen vielleicht, auf welchen stummen, tiefen Gewässern die
dünne Rinde des täglichen Lebens ruht; sie sind Gott näher gekommen,
und die Schritte, die sie dem Lichte zu gemacht haben, gehen nie mehr
verloren. Denn die Seele ist ein Ding, das wohl im Stande ist, nicht
emporzuklimmen, aber sie kann nie herunterkommen ...
„O Schweigen, grosses Reich des Schweigens", ruft ferner Carlyle, der
diesen Bereich des Lebens, der uns trägt, so wohl kannte-„o Reich, höher
als die Sterne und tiefer als des Todes Gefilde!... Das Schweigen und
die edlen, schweigsamen Menschen!... Sie sind hier und dort verstreut,
jeder in seinem Lande, denken im Stillen, arbeiten im Stillen und die
Morgenblätter erzählen nichts davon... Sie sind das Salz der Erde, und das
Land, das keine solchen Männer oder deren zu wenig hat, ist auf keinem
guten Wege ... Es ist ein wurzelloser Wald, der ganz aus Blättern und
Zweigen besteht, der bald verwelken und kein Wald mehr sein wird ..."
Aber das wirkliche Schweigen, das noch grösser und noch schwerer zu
erreichen ist als das materielle, von dem Carlyle uns spricht, gehört
nicht zu den Göttern, welche die Menschheit verlassen können. Es
umgiebt uns von allen Seiten, es ist die Grundlage unsres unbewussten
Lebens, und wenn einer von uns zitternd an ein Thor des Abgrundes
klopft, öffnet ihm immer dasselbe wachsame Schweigen die Pforte.
Auch hier sind wir alle gleich vor jenem unvergleichlichen Dinge. Das
Schweigen des Königs oder des Sklaven, angesichts des Todes, des
Schmerzes oder der Liebe trägt dieselben Züge und verbirgt unter seinem
undurchdringlichen Mantel die nämlichen Schätze. Das Geheimnis dieses
Schweigens, als welches das eigentliche Schweigen und die unantastbare
Zufluchtsstätte unsrer Seele ist, wird nie verloren gehen, und wenn der
erste Mensch den letzten Erdenbewohner träfe, würden sie auf gleiche
Weise schweigen, im Kuss, im Schrecken, in der Thräne; sie würden
auf gleiche Weise schweigen in allem, was ohne Lüge vernommen werden
soll, und trotz so vieler Jahrhunderte würden sie, gleich als hätten sie
in derselben Wiege geruht, zu gleicher Zeit das verstehen, was zu sagen
ihre Lippen nicht vor Weltuntergang lernen werden ...
 
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