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Maeterlinck, Maurice; Oppeln-Bronikowski, Friedrich von [Übers.]
Der Schatz der Armen — Florenz, Leipzig, 1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.37324#0060
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ihres Schweigens. Auch sie sind gross. Und Sokrates beruft sich auf
sie und hebt sie, während er spricht, denn jedermann birgt und ist die-
selbe Wahrheit, die ein Beredter ausdrückt. Aber im Beredten scheint
diese Wahrheit, eben weil er sie auszudrücken vermag, schon weniger
zu herrschen; und darum wendet er sich diesen bewundernswerten
Schweigern mit grösserer Ehrfurcht und Hinneigung zu".
Der Mensch lechzt nach Erklärungen. Man soll ihm sein Leben zeigen. Er
freut sich, wenn er irgendwo die genaue Auslegung einer kleinen Gebärde
findet,die er vor fünfundzwanzig Jahren gemacht hat. Hier-giebt es keine
kleinen Gebärden; hier sind die meisten Haltungen unsrer alltäglichen
Seele vertreten. Man wird darin nicht den ewigen Charakter des Denkens
eines Mark Aurel Rnden. Aber Mark Aurel ist Gedanke und nur Gedanke.
Wer von uns führt das Leben Mark Aurels? Hier gilt der Mensch und
weiter nichts. Er ist nicht willkürlich aufgehöht, er ist uns nur näher als
gewöhnlich. Hier ist Johann, der seine Bäume beschneidet, dort Peter, der
sein Haus baut, du, der mir von der Ernte spricht, ich, der dir die Hand
giebt- aber wir sind auf einen Punkt gebracht, wo wir die Götter berühren,
und wir erstaunen über das, was wir thun. Wir wussten nicht, dass alle
Kräfte der Seele gegenwärtig wären; wir wussten nicht, dass alle Gesetze
des Weltalls um uns harrten, und wir sehen uns um und blicken uns an,
ohne etwas zu sagen, wie Leute, die ein Wunder gesehen haben.
Emerson hat uns mit Einfalt diese gleichmässige und geheime Grösse
unsres Lebens bestätigt. Er hat uns mit Schweigen und Bewundrung um-
geben. Er hat einen Lichtstrahl gesandt auf den Weg des Handwerkers,
der aus seiner Werkstatt tritt. Er hat uns alle KräRe Himmels und der
Erden gezeigt, wie sie damit beschäRigt sind, die Schwelle zu halten, auf
der zwei Nachbaren vom fallenden Regen oder aufkommenden Winde
reden; und über zwei Wandrern, die sich begegnen, lässt er uns das Antlitz
eines Gottes sehen, das dem Antlitz eines Gottes zulächelt. Er steht
unserm gewohnten Leben so nahe wie keiner. Er ist der aufmerksamste,
beharrlichste, redlichste, peinlichste und vielleicht menschlichste Warner.
EristderWeisedesAlltags;-und der Alltag istimGanzenderStoff unsres
Lebens. Mehr ajs Ein Jahr verfliesst ohne LeidenschaRen, ohneTugenden,
ohne Wunder. Lehrt uns die kleinen Stunden des Lebens achten! Wenn
ich diesen Morgen im Geiste Mark Aurels habe handeln können, so kommt — ^
mir nicht, meine Thaten zu betonen, denn auch ich weiss, dass sich etwas 5^
 
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