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Maeterlinck, Maurice; Oppeln-Bronikowski, Friedrich von [Übers.]
Der Schatz der Armen — Florenz, Leipzig, 1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.37324#0059
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leben. Er hat diesem Leben, das seine traditionellen Horizonte verloren
hatte, einen fast annehmbaren Sinn gegeben; und vielleicht hat er uns zu
zeigen vermocht, das es seltsam genug, tief genug und gross genug ist,
um keinen andern als den Selbstzweck nötig zu haben. Er weiss nicht
mehr davon als die andren; aber er bejaht mit mehr Mut und hat Vertrauen
zum Mysterium. Ihr alle, die ihrTage und Wochen hinbringt, ohneThaten,
ohne Gedanken, ohne Licht, müsst leben, weil euer Leben trotz allem
unbegreiflich ist und göttlich. Ihr müsst leben, weil keiner das Recht hat,
sich den geistigen Ereignissen banaler Wochen zu entziehen. Ihr müsst
leben, weil es keine Stunde ohne innere Wunder und unaussprechliche
Bedeutungen giebt. Ihr müsst leben, weil es keine Handlung, kein Wort,
keine Gebärde giebt, die den unerklärlichen Ansprüchen einer Welt ent-
ginge, „wo es viel zu thun giebt und wenig zu wissen."
Es giebt nicht grosses noch kleines Leben, und dieThat des Regulus oder
Leonidas ist ohne Belang, wenn ich sie einem Momente des geheimen
Daseins meiner Seele vergleiche. Sie konnte thun, was jene thaten, oder
es nicht thun; diese Dinge erreichen sie nicht; und die Seele des Regulus
war, als er nach Carthago zurückkehrte, wahrscheinlich ebenso zerstreut
und gleichgiltig, wie die des Arbeiters, der nach seiner Werkstatt auf-
bricht. Sie ist allen unsren Handlungen zu fern. Sie lebt auf dem Grunde
unsres Wesens ein Leben, von dem sie nicht spricht; und von den Höhen,
wo sie herrscht, ist die Mannigfaltigkeit der Wesen nicht unterscheidbar.
Wir schreiten gebeugt unter dem Gewicht unsrer Seele, und zwischen
ihr und uns ist kein Verhältnis. Sie denkt vielleicht nie daran, was wir
thun, und das ist ihr vom Gesicht abzulesen. Könnte man einen Geist
aus einer andren Welt fragen, welches der synthetische Ausdruck des
menschlichen Antlitzes ist, so würde er, nachdem er die Menschen in
ihren Freuden, ihren Leiden und ihrer Unruhe gesehen, ohne Zweifel
antworten: Sie sehen aus, als ob sie an etwas andres dächten. Sei
gross, weise und beredt; die Seele des Armen,der im Winkel an der Brücke
die Hand ausstreckt, wird nicht neidisch sein, aber die deine wird ihm viel-
leicht sein Schweigen neiden. Der Held bedarf der Zustimmung des
gewöhnlichen Menschen, aber der gewöhnliche Mensch verlangt nicht
nach der Zustimmung des Helden und verfolgt seinen Weg ohne Hast,
wie einer, der alle seine Schätze am sichren Orte weiss. „Wenn Sokrates
VM spricht", sagt Emerson, „so schämen sich Lysis und Menexenes nicht
 
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