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Maeterlinck, Maurice; Oppeln-Bronikowski, Friedrich von [Übers.]
Der Schatz der Armen — Florenz, Leipzig, 1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.37324#0062
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zahlig-Einen menschlichen Seele bilden, im Finstern tastend, sie für Augen-
blicke ahnt, so fühlen sich auch die geringsten unter uns, ich weiss nicht,
durch welche jähe und unaussprechliche Bewegung, von etwas befreit;
eine neue Wahrheit, die viel höher, reiner und geheimnisvoller ist, nimmt
den Platz der ein, die sich entdeckt sah und ohne Umkehr flieht; und
alle Seelen schicken sich, ohne dass etwas es ausserlich verriete, zu einer
Ara voller Heiterkeit an und feiern tiefe Feste, an denen wir nur sehr
zögernd und entfernt Anteil nehmen. Und ich glaube, dies geschieht
derart, dass sie steigen und einem Ziele zustreben, das sie allein zu er-
kennen vermögen.
Alles, was man sagen kann, ist nichts in sich. Man lege in Eine Wage-
schale alle Worte der grossen Weisen und in die andre die unbewusste
Weisheit dieses vorübergehenden Kindes, und man wird sehen, dass die
Enthüllungen Platons, Mark Aurels, Schopenhauers und Pascals nicht um
Haaresbreite die grossen Schatze des Unbewussten überwiegen werden;
denn das schweigende Kind ist tausendfach weiser als dieser redende
Mark Aurel. Und dennoch wäre, wenn Mark Aurel die zwölf Bücher
seiner Betrachtungen nicht geschrieben hatte, ein Teil der unbekannten
Schatze, die unser Kind birgt, nicht der nämliche. Es ist vielleicht nicht
möglich, von diesen Dingen klar zu sprechen; wer aber tief genug sich
zu befragen und zu leben weiss, und wäre es nur für die Zeitdauer eines
Blitzes, empfindet nach seinem unendlichen Wesen, dass dem so ist.
Möglich, dass man eines Tages noch die Gründe entdeckt, kraft deren
- wenn Platon, Swedenborg oder Plotin nicht gelebt hatten - die Seele
des Bauern, der sie nicht gelesen hat, noch je von ihnen sprechen hörte,
nicht das wäre, was sie heute untrüglich ist. Aber wie es darum auch
bestellt sei, kein Gedanke verliert sich je für irgend eine Seele; und wer
wollte uns die Teile von uns nennen, die nur kraft der Gedanken leben,
die nie gedacht worden sind? Unser Bewusstsein hat mehr als Eine
Stufe, und die Weisesten bekümmern sich nur um unser fast unbewusstes
Bewusstsein, weil es ein Begriff ist,göttlich zu werden. Dieses transcenden-
tale Bewusstsein zu mehren, scheint immer der unbekannte, höchste Wunsch
der Menschen gewesen. Es liegt wenig daran, dass sie es nicht wissen,
denn sie wissen nichts und handeln doch in ihrer Seele so weise wie
die Weisesten. Zwar soll die Mehrheit der Menschen nur dann einen
Augenblick leben, wenn sie eben sterben. Indessen mehrt sich dieses

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