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94 VI. Griechische Kultstätten

Weit größer war der Gewinn für die Plastik. Über das
6. Jahrhundert hinauf schienen die ältesten Metopen von Selinunt,
vielleicht auch die Friesreliefs von Assos, den Ausblick auf eine,
wenn auch nicht gerade primitive, so doch stark archaische Kunst-
weise zu öffnen. Die massigen Statuen von der heiligen Straße
zum Didymäon, die hochaltertümlichen Reliefs von den Säulen
des ephesischen Artemistempels, die befangenen, jedoch »schon
von Anmut leise umflossenen« Friese des lykischen Harpyien-
denkmals dienten verschiedene Richtungen des 6. Jahrhunderts
anschaulich zu machen. Die Scheidung der Kunst in eine dorische
und eine ionische, die für die Baukunst von alters her geläufig
war, begann unter solchen neuen Eindrücken auch auf die Skulptur
angewandt zu werden. Eben dahin führte im 5. Jahrhundert
der Gegensatz zwischen den äginetischen, den paar olympischen,
den jüngeren selinuntischen Skulpturen einerseits und den athenischen
und phigalischen Meisterwerken andrerseits; die Plastik der Zeit
des »hohen Stils« war überhaupt erst anschaulich geworden.
In ähnlicher Weise hatten die Funde in Halikarnass, in Ephesos,
in Knidos die nach Kleinasien übergesiedelte Skulptur des 4. Jahr-
hunderts lebendig gemacht; der Apoxyomenos und der Sophokles
waren ergänzend hinzugetreten. Überall waren Anhaltspunkte
gewonnen worden, verwandte Werke aufzusuchen und das Bild
der griechischen Skulpturentwickelung reicher und farbiger aus-
zugestalten. Es begann jene Reihe von »Geschichten griechischer
Plastik«, die das Vorurteil erweckten oder bestärkten, als ob die
Geschichte der griechischen Kunst in der Geschichte der griechischen
Plastik beschlossen wäre; der Sinn für die unzertrennliche Zu-
sammengehörigkeit der drei Künste ging mehr und mehr verloren.
Mit Alexander dem Großen endete, wie gesagt, die Reihe
der neuen Entdeckungen. Bei der Aphrodite von Melos erhob
sich immer von neuem der Zweifel, ob sie nicht ins 4., wo
nicht gar ins 5. Jahrhundert versetzt werden müsse; sie schien
zu gut für die hellenistische Epoche, der man desto geringere
Leistungsfähigkeit zutraute, je weniger man von ihr wußte. Denn
in der Tat war hier eine weit klaffende Lücke unserer Kenntnis
geblieben, um so empfindlicher, als auch die Literatur uns hier
 
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