DER JUNGE CRANACH VERSUCH EINER REVISION1)
Mit sechs Abbildungen auf zwei Tafeln Von IGNAZ BETH
Es ist eine der interessantesten Erscheinungen in der kunstgeschichtlichen For-
schung, daß sich Vorstellungen über Künstler nicht allein auf Grund des vor-
handenen Tatsachenmaterials bilden, sondern Schwankungen unterworfen sind nach
Maßgabe gewisser Strömungen, die, dem Auge unerreichbar, die Direktive für die
Urteile geben. Künstler, die größten nicht ausgeschlossen, (ja diese am meisten),
werden im Laufe der Jahrzehnte verschieden beurteilt, wo doch der feste Kern
ihres Lebenswerkes unveränderlich bleibt. Von Beispielen kann man hier ruhig
absehen, das Faktum ist allgemein bekannt.
Etwas anderes ist es, wenn große entscheidende Partien eines Künstlerlebens,
in einem gewissen Moment ans Tageslicht herangezogen werden, um das bisherige
Bild umzuändern, zu bereichern oder zu verringern.
Und doch ist die Wucht der Anschauungsevolutionen so groß, daß selbst die über-
raschendsten Entdeckungen sich ihnen fügen müssen; eine kurze Notiz kann, im
richtigen Moment gesagt, oft zündender wirken, als ganze Reihen von unbekannten
Urkunden, wenn für deren Verständnis — die Zeit nicht gekommen ist. Um nur
das Gebiet der deutschen Graphik zu nennen: welch mächtigen Widerhall fand die
Zuschreibung der Terenzzeichnungen an Dürer, weil sie in die Zeit fiel, wo man
für diese Fragen ein williges Ohr hatte, und anderseits: wie klanglos vollzog sich
die Reduktion des Burgkmairschen Werkes um nicht weniger als — den ganzen
Weiditz! Wodurch nur gesagt werden soll, daß zu jeder „Entdeckung" eben —
ihre Zeit gehört, und ihre Würdigung immer einen gewissen Abstand erfordert.
Der „junge" Cranach steht bekanntlich seit einem Jahrzehnt zur Diskussion.
Seit der Cranach-Ausstellung in Dresden 1899 ist eine Reihe von Forschern am
Werke, das Dunkel seiner Jugend- und ersten Mannesjahre aufzuhellen, vielfach
mit Erfolg. Was Rieffel, Flechsig, Dodgson, Friedländer, Dörnhöffer u. a. dazu
beigetragen haben, die Erscheinung des dreißigjährigen Cranach präziser zu um-
reißen, hat seinen positiven Wert, weil es sich eben auf Tatsachen stützt. Trotz-
dem, vielmehr gerade darum, weil das Problem so beharrlich verfolgt wird, wird
es allmählich Zeit, dem Thema als solchem auf den Leib zu rücken, unbeirrt
durch mehr oder weniger wichtige Funde, die noch in der Zeiten Schoße ver-
borgen liegen mögen. Es wird sich darum handeln, von vornherein sich zu fragen:
inwiefern unsere Vorstellung von Cranach durch neue Funde einer Änderung fähig
ist. Es wird, mit einem Wort, nötig sein, jetzt schon die Grenzen der Vermutungen
abzustecken, innerhalb deren das Bild des Künstlers Platz finden kann. Es ist dann
kein Dogmatismus, der diese Forderung aufzustellen sich für befugt hält, sondern
es wäre einfach der Versuch einer Revision des bisher Erreichten.
Durch Lippmanns verdienstvolle Publikation des graphischen Oeuvre von Cranaches
vor 15 Jahren bekam die althergebrachte Meinung über den kursächsischen Hof-
maler den ersten Stoß. Was wenige vorher wußten, davon konnten alle sich jetzt
überzeugen, daß Cranach einer der besten Holzschneider seiner Zeit gewesen ist,
von einer herzerfreuenden Frische. Diese Holzschnitte, unter denen jene aus
dem Jahre 1509 die Mehrzahl bildeten, wirkten so jugendlich, wenn man sie mit
(x) Zugleich im Hinblick auf die z. Zt. im Berliner Kupferstich-Kabinett von Friedländer veranstaltete
Cranach-Ausstellung. Die Red.
24
Mit sechs Abbildungen auf zwei Tafeln Von IGNAZ BETH
Es ist eine der interessantesten Erscheinungen in der kunstgeschichtlichen For-
schung, daß sich Vorstellungen über Künstler nicht allein auf Grund des vor-
handenen Tatsachenmaterials bilden, sondern Schwankungen unterworfen sind nach
Maßgabe gewisser Strömungen, die, dem Auge unerreichbar, die Direktive für die
Urteile geben. Künstler, die größten nicht ausgeschlossen, (ja diese am meisten),
werden im Laufe der Jahrzehnte verschieden beurteilt, wo doch der feste Kern
ihres Lebenswerkes unveränderlich bleibt. Von Beispielen kann man hier ruhig
absehen, das Faktum ist allgemein bekannt.
Etwas anderes ist es, wenn große entscheidende Partien eines Künstlerlebens,
in einem gewissen Moment ans Tageslicht herangezogen werden, um das bisherige
Bild umzuändern, zu bereichern oder zu verringern.
Und doch ist die Wucht der Anschauungsevolutionen so groß, daß selbst die über-
raschendsten Entdeckungen sich ihnen fügen müssen; eine kurze Notiz kann, im
richtigen Moment gesagt, oft zündender wirken, als ganze Reihen von unbekannten
Urkunden, wenn für deren Verständnis — die Zeit nicht gekommen ist. Um nur
das Gebiet der deutschen Graphik zu nennen: welch mächtigen Widerhall fand die
Zuschreibung der Terenzzeichnungen an Dürer, weil sie in die Zeit fiel, wo man
für diese Fragen ein williges Ohr hatte, und anderseits: wie klanglos vollzog sich
die Reduktion des Burgkmairschen Werkes um nicht weniger als — den ganzen
Weiditz! Wodurch nur gesagt werden soll, daß zu jeder „Entdeckung" eben —
ihre Zeit gehört, und ihre Würdigung immer einen gewissen Abstand erfordert.
Der „junge" Cranach steht bekanntlich seit einem Jahrzehnt zur Diskussion.
Seit der Cranach-Ausstellung in Dresden 1899 ist eine Reihe von Forschern am
Werke, das Dunkel seiner Jugend- und ersten Mannesjahre aufzuhellen, vielfach
mit Erfolg. Was Rieffel, Flechsig, Dodgson, Friedländer, Dörnhöffer u. a. dazu
beigetragen haben, die Erscheinung des dreißigjährigen Cranach präziser zu um-
reißen, hat seinen positiven Wert, weil es sich eben auf Tatsachen stützt. Trotz-
dem, vielmehr gerade darum, weil das Problem so beharrlich verfolgt wird, wird
es allmählich Zeit, dem Thema als solchem auf den Leib zu rücken, unbeirrt
durch mehr oder weniger wichtige Funde, die noch in der Zeiten Schoße ver-
borgen liegen mögen. Es wird sich darum handeln, von vornherein sich zu fragen:
inwiefern unsere Vorstellung von Cranach durch neue Funde einer Änderung fähig
ist. Es wird, mit einem Wort, nötig sein, jetzt schon die Grenzen der Vermutungen
abzustecken, innerhalb deren das Bild des Künstlers Platz finden kann. Es ist dann
kein Dogmatismus, der diese Forderung aufzustellen sich für befugt hält, sondern
es wäre einfach der Versuch einer Revision des bisher Erreichten.
Durch Lippmanns verdienstvolle Publikation des graphischen Oeuvre von Cranaches
vor 15 Jahren bekam die althergebrachte Meinung über den kursächsischen Hof-
maler den ersten Stoß. Was wenige vorher wußten, davon konnten alle sich jetzt
überzeugen, daß Cranach einer der besten Holzschneider seiner Zeit gewesen ist,
von einer herzerfreuenden Frische. Diese Holzschnitte, unter denen jene aus
dem Jahre 1509 die Mehrzahl bildeten, wirkten so jugendlich, wenn man sie mit
(x) Zugleich im Hinblick auf die z. Zt. im Berliner Kupferstich-Kabinett von Friedländer veranstaltete
Cranach-Ausstellung. Die Red.
24