Verfall und vor den Restaurationen, gemalt haben, kein einziger den angeblichen
Urtypus ohne Bart und mit halbgeöffnetem Mund wiedergegeben hätte. Man müßte
dann glauben, daß die Kopisten in einmütigem Protest gegen den von Leonardo
gewählten Typus der Tradition folgend von sich aus einen Bart zugegeben und
aus ganz unersichtlichem Grund die Stellung der Lippen verändert hätten. Auch
die ersten Ideenskizzen zum Abendmahl zeigen nur den bärtigen Christus: auf den
Studienblättern in Windsor und im Louvre mit starkem Vollbart, während der
idealisierte Typus auf der Studienzeichnung in der Akademie zu Venedig einen
Kinnbart aufweist. Freilich ist die Echtheit des Blattes wegen der höchst auf-
fälligen Mängel in der Zeichnung schon verschiedenfach angezweifelt worden. Aber
auch wer die Zweifel nicht teilt und Wert darauf legt, daß es gerade in den Typen
dem Wandbild nahesteht, hat damit keinen Beweis für, sondern gegen die An-
nahme eines bartlosen Christuskopfes. Den allbekannten Christuskopf der Brera
endlich kann man für die Authentizität und Ursprünglichkeit des bartlosen Typus
nicht ins Feld führen, da ihn die neuere Kritik als allzu weichlich und kraftlos ab-
gelehnt hat1). Keinesfalls ist sie die Modellstudie, nach der der Straßburger Kopf
geschaffen wäre. Ihrem Schöpfer kam es nicht darauf an, ein Naturvorbild wieder-
zugeben, sondern einen Typus lieblicher Sanftmut und Güte zu bilden, wobei er
freilich etwas ins Sentimentale und Schwächliche geraten ist. Gerade das Gegen-
teil gilt vom Straßburger Kopf, wo der Zug der Erhabenheit bis nahe zur leblosen
Starrheit getrieben ist. Es sind zwei nach entgegengesetzter Richtung auseinander-
strebende Versuche, den Christuskopf des Wandbildes umzugestalten, dort ins
Süße und Liebliche, hier ins Kalte, Erhabene. Die Beziehungen zwischen den
beiden Studien braucht man darum nicht zu leugnen; der Verfertiger der einen
kann die andere gekannt haben, aber ihre Ziele waren grundverschieden. In der
geistigen Auffassung steht der Straßburger Kopf dem Meister natürlich näher, wäh-
rend der Einfluß der Mailänder Zeichnung sich in dem Christushaupt auf Raffael
Morghens Stich deutlich kundgibt.
Für die Beurteilung des Christuskopfes ist der Karton mit dem Andreashaupt von
Bedeutung, das nächst jenem in der ganzen Serie die stärksten Abweichungen vom
Wandgemälde zeigt. Der ganze Nachdruck ist auf den Bau des Kopfes verlegt,
der in der Profilstellung entschieden drastischer zur Wirkung kommt als in der
Dreiviertelansicht. Ferner ist auf die starke physiognomische Belebung, die auf
dem Original ein gut Teil der Wirkung zu bestreiten hat, hier ganz verzichtet.
Dort malt sich das Entsetzen, das die abwehrende Gebärde der Hände ausdrückt,
auch im Gesicht: im Blick der Augen, in den hochgezogenen Brauen und den
Stirnfalten. Für die Einbeziehung des Andreas in die allgemeine dramatische
Situation waren diese im engeren Sinn physiognomischen Merkmale ebenso wichtig
oder eher noch wichtiger als die allgemeine Anlage des Kopfes. Dem Verfertiger
des Kartons dagegen schienen sie die monumentale Wirkung zu beeinträchtigen, da
sie Bewegung und damit Unruhe mit sich führen und die reine Formwirkung
schwächen. Darum abstrahiert er von allem, was die Beschauer von dem mäch-
tigen Aufbau, dem kühnen Profil mit der hohen Stirne, der geschwungenen Nase
und dem aufgeworfenen Mund ablenken könnte. Derselbe Grund dürfte ihn be-
stimmt haben, bei Jakobus d. J. den die Form verhüllenden Bart gegenüber dem
Original stark zu reduzieren, und auf allen Köpfen die Augenbrauen wegzulassen
(i) In der Sitzung der Berliner Kunstgesch. Gesellschaft 1908 III hat Schubring sich gegen die Zu-
teilung der Straßburger Kartons und der Mailänder Zeichnung an Leonardo ausgesprochen. Denselben
Standpunkt nimmt von Seidlitz, Leonardo da Vinci I, S. 122 ein.
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Urtypus ohne Bart und mit halbgeöffnetem Mund wiedergegeben hätte. Man müßte
dann glauben, daß die Kopisten in einmütigem Protest gegen den von Leonardo
gewählten Typus der Tradition folgend von sich aus einen Bart zugegeben und
aus ganz unersichtlichem Grund die Stellung der Lippen verändert hätten. Auch
die ersten Ideenskizzen zum Abendmahl zeigen nur den bärtigen Christus: auf den
Studienblättern in Windsor und im Louvre mit starkem Vollbart, während der
idealisierte Typus auf der Studienzeichnung in der Akademie zu Venedig einen
Kinnbart aufweist. Freilich ist die Echtheit des Blattes wegen der höchst auf-
fälligen Mängel in der Zeichnung schon verschiedenfach angezweifelt worden. Aber
auch wer die Zweifel nicht teilt und Wert darauf legt, daß es gerade in den Typen
dem Wandbild nahesteht, hat damit keinen Beweis für, sondern gegen die An-
nahme eines bartlosen Christuskopfes. Den allbekannten Christuskopf der Brera
endlich kann man für die Authentizität und Ursprünglichkeit des bartlosen Typus
nicht ins Feld führen, da ihn die neuere Kritik als allzu weichlich und kraftlos ab-
gelehnt hat1). Keinesfalls ist sie die Modellstudie, nach der der Straßburger Kopf
geschaffen wäre. Ihrem Schöpfer kam es nicht darauf an, ein Naturvorbild wieder-
zugeben, sondern einen Typus lieblicher Sanftmut und Güte zu bilden, wobei er
freilich etwas ins Sentimentale und Schwächliche geraten ist. Gerade das Gegen-
teil gilt vom Straßburger Kopf, wo der Zug der Erhabenheit bis nahe zur leblosen
Starrheit getrieben ist. Es sind zwei nach entgegengesetzter Richtung auseinander-
strebende Versuche, den Christuskopf des Wandbildes umzugestalten, dort ins
Süße und Liebliche, hier ins Kalte, Erhabene. Die Beziehungen zwischen den
beiden Studien braucht man darum nicht zu leugnen; der Verfertiger der einen
kann die andere gekannt haben, aber ihre Ziele waren grundverschieden. In der
geistigen Auffassung steht der Straßburger Kopf dem Meister natürlich näher, wäh-
rend der Einfluß der Mailänder Zeichnung sich in dem Christushaupt auf Raffael
Morghens Stich deutlich kundgibt.
Für die Beurteilung des Christuskopfes ist der Karton mit dem Andreashaupt von
Bedeutung, das nächst jenem in der ganzen Serie die stärksten Abweichungen vom
Wandgemälde zeigt. Der ganze Nachdruck ist auf den Bau des Kopfes verlegt,
der in der Profilstellung entschieden drastischer zur Wirkung kommt als in der
Dreiviertelansicht. Ferner ist auf die starke physiognomische Belebung, die auf
dem Original ein gut Teil der Wirkung zu bestreiten hat, hier ganz verzichtet.
Dort malt sich das Entsetzen, das die abwehrende Gebärde der Hände ausdrückt,
auch im Gesicht: im Blick der Augen, in den hochgezogenen Brauen und den
Stirnfalten. Für die Einbeziehung des Andreas in die allgemeine dramatische
Situation waren diese im engeren Sinn physiognomischen Merkmale ebenso wichtig
oder eher noch wichtiger als die allgemeine Anlage des Kopfes. Dem Verfertiger
des Kartons dagegen schienen sie die monumentale Wirkung zu beeinträchtigen, da
sie Bewegung und damit Unruhe mit sich führen und die reine Formwirkung
schwächen. Darum abstrahiert er von allem, was die Beschauer von dem mäch-
tigen Aufbau, dem kühnen Profil mit der hohen Stirne, der geschwungenen Nase
und dem aufgeworfenen Mund ablenken könnte. Derselbe Grund dürfte ihn be-
stimmt haben, bei Jakobus d. J. den die Form verhüllenden Bart gegenüber dem
Original stark zu reduzieren, und auf allen Köpfen die Augenbrauen wegzulassen
(i) In der Sitzung der Berliner Kunstgesch. Gesellschaft 1908 III hat Schubring sich gegen die Zu-
teilung der Straßburger Kartons und der Mailänder Zeichnung an Leonardo ausgesprochen. Denselben
Standpunkt nimmt von Seidlitz, Leonardo da Vinci I, S. 122 ein.
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