aber, daß der Kopf aus dem geistigen Zusammenhang des Gemäldes herausgenom-
men und ganz auf sich selbst gestellt ist, spricht dagegen, daß er als Vorlage für
eine Wiederholung des Bildes gedacht ist, läßt ihn vielmehr als eine um ihrer
selbst willen geschaffene Studie erscheinen. Und nicht anders steht es um den
Christuskopf: in seiner hoheitsvollen aber starren Ruhe hat er den Connex mit den
Nachbarn eingebüßt, und noch entschiedener charakterisiert er sich als selbständige
Arbeit durch die beiden wichtigen Unterscheidungsmerkmale, die völlige Bartlosig-
keit und die geöffneten Lippen. Nach dem einmütigen Zeugnis aller Kopisten darf,
wie schon ausgeführt, das Original in diesen Punkten nicht nach dem Straßburger
Typus korrigiert werden. Vielmehr stellt dieser dem Wandbild einen selbständigen
Versuch entgegen. Unter den Leonardoschülern mag, wie zu Nürnberg in Dürers
Kreis, das Problem des Christustypus mit Eifer diskutiert und neue Lösungen
versucht worden sein, zumal da der Meister selbst einigermaßen von der Tradition
abgerückt war; eine solche haben wir hier vor uns. Endlich noch eins; der
Petruskopf erscheint, wie früher bemerkt, zweimal in vom Original und unter sich
abweichender Stellung. Zusammen mit Judas in stark gegen die Bildfläche geneigter
Haltung, zusammen mit Johannes umgekehrt gegen den Beschauer aus dem Bild
herausgelehnt. Wie läßt sich das erklären? Die Stellung im Original — eine im
wesentlichen gerade Profilwendung — lag dem Kopisten vor, ein Zweifel darüber
war nicht möglich. Hält man unsere Kartons für Entwürfe, so kann man nur an-
nehmen, daß sich ihr Schöpfer hier zwei Möglichkeiten einer Abänderung bezw.
Verbesserung des Originals vorführte. Für den Karton mit dem Johanneskopf ist
das aber ganz undenkbar; denn danach käme der Kopf des Petrus in eine dem
Judas sehr ähnliche Haltung und Richtungsachse, die durch die Komposition der
Dreiergruppe Johannes-Petrus-Judas völlig ausgeschlossen ist. Die einzige annehm-
bare Deutung scheint uns zu sein, daß die verschiedene Lage des Petruskopfes
beidemale durch den Kontrapost bestimmt ist. Auf dem einen Blatt neigt er sich
nach hinten, weil der Judaskopf sich aus der Bildfläche herauslehnt; auf dem andern
bildet er durch seine starke Neigung nach außen ein Gegengewicht gegen die
Haltung des Johanneskopfes und gibt zugleich eine Erklärung für die auf Johannes
Schulter liegende Hand. Wenn aber der Kopist so die Köpfe innerhalb des einzel-
nen Kartons gegeneinander abwägt ohne Rücksicht auf die Gesamtkomposition, so be-
stätigt uns das, daß es sich hier nicht um Entwürfe für eine Replik, sondern um
Werke handelt, die um ihres eignen Wertes willen geschaffen sind, dem Original
in wesentlichen Stücken frei gegenüber stehen und Blatt für Blatt einzeln aufgefaßt
und betrachtet werden können. Daß Leonardo selbst derartige Studien nach seinem
eigenen Werk gemacht haben sollte, ist wenig glaublich; auch hat Hoerth selbst
triftige Einwände aus der Formerscheinung abgeleitet, die gegen Leonardos Hand
sprechen. Mit vollem Recht erkennt er in den Arbeiten den Stil des beginnenden
Cinquecento, wozu die Richtung auf ein majestätisches, aber auch einigermaßen
kälteres und abstrakteres Ideal trefflich paßt. Unter den Schülern und Mitarbeitern
Leonardos aber hat der von Dehio namhaft gemachte Boltraffio eben darum den
Hauptanspruch auf die Urheberschaft: er ist seit den letzten Jahren des ausgehen-
den fünfzehnten Jahrhunderts bewußt auf breite, gemessene Wirkung und hoheits-
volle Würde ausgegangen; seine großzügigen Porträtskizzen in der Ambrosiana be-
stätigen, daß er Sinn für bedeutende Formgebung und ernste Auffassung hatte und
lassen ihn recht wohl geeignet erscheinen, als Kopist die Typen des Meisters dem
einseitigen Ideal des neuen Jahrhunderts anzunähern.
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men und ganz auf sich selbst gestellt ist, spricht dagegen, daß er als Vorlage für
eine Wiederholung des Bildes gedacht ist, läßt ihn vielmehr als eine um ihrer
selbst willen geschaffene Studie erscheinen. Und nicht anders steht es um den
Christuskopf: in seiner hoheitsvollen aber starren Ruhe hat er den Connex mit den
Nachbarn eingebüßt, und noch entschiedener charakterisiert er sich als selbständige
Arbeit durch die beiden wichtigen Unterscheidungsmerkmale, die völlige Bartlosig-
keit und die geöffneten Lippen. Nach dem einmütigen Zeugnis aller Kopisten darf,
wie schon ausgeführt, das Original in diesen Punkten nicht nach dem Straßburger
Typus korrigiert werden. Vielmehr stellt dieser dem Wandbild einen selbständigen
Versuch entgegen. Unter den Leonardoschülern mag, wie zu Nürnberg in Dürers
Kreis, das Problem des Christustypus mit Eifer diskutiert und neue Lösungen
versucht worden sein, zumal da der Meister selbst einigermaßen von der Tradition
abgerückt war; eine solche haben wir hier vor uns. Endlich noch eins; der
Petruskopf erscheint, wie früher bemerkt, zweimal in vom Original und unter sich
abweichender Stellung. Zusammen mit Judas in stark gegen die Bildfläche geneigter
Haltung, zusammen mit Johannes umgekehrt gegen den Beschauer aus dem Bild
herausgelehnt. Wie läßt sich das erklären? Die Stellung im Original — eine im
wesentlichen gerade Profilwendung — lag dem Kopisten vor, ein Zweifel darüber
war nicht möglich. Hält man unsere Kartons für Entwürfe, so kann man nur an-
nehmen, daß sich ihr Schöpfer hier zwei Möglichkeiten einer Abänderung bezw.
Verbesserung des Originals vorführte. Für den Karton mit dem Johanneskopf ist
das aber ganz undenkbar; denn danach käme der Kopf des Petrus in eine dem
Judas sehr ähnliche Haltung und Richtungsachse, die durch die Komposition der
Dreiergruppe Johannes-Petrus-Judas völlig ausgeschlossen ist. Die einzige annehm-
bare Deutung scheint uns zu sein, daß die verschiedene Lage des Petruskopfes
beidemale durch den Kontrapost bestimmt ist. Auf dem einen Blatt neigt er sich
nach hinten, weil der Judaskopf sich aus der Bildfläche herauslehnt; auf dem andern
bildet er durch seine starke Neigung nach außen ein Gegengewicht gegen die
Haltung des Johanneskopfes und gibt zugleich eine Erklärung für die auf Johannes
Schulter liegende Hand. Wenn aber der Kopist so die Köpfe innerhalb des einzel-
nen Kartons gegeneinander abwägt ohne Rücksicht auf die Gesamtkomposition, so be-
stätigt uns das, daß es sich hier nicht um Entwürfe für eine Replik, sondern um
Werke handelt, die um ihres eignen Wertes willen geschaffen sind, dem Original
in wesentlichen Stücken frei gegenüber stehen und Blatt für Blatt einzeln aufgefaßt
und betrachtet werden können. Daß Leonardo selbst derartige Studien nach seinem
eigenen Werk gemacht haben sollte, ist wenig glaublich; auch hat Hoerth selbst
triftige Einwände aus der Formerscheinung abgeleitet, die gegen Leonardos Hand
sprechen. Mit vollem Recht erkennt er in den Arbeiten den Stil des beginnenden
Cinquecento, wozu die Richtung auf ein majestätisches, aber auch einigermaßen
kälteres und abstrakteres Ideal trefflich paßt. Unter den Schülern und Mitarbeitern
Leonardos aber hat der von Dehio namhaft gemachte Boltraffio eben darum den
Hauptanspruch auf die Urheberschaft: er ist seit den letzten Jahren des ausgehen-
den fünfzehnten Jahrhunderts bewußt auf breite, gemessene Wirkung und hoheits-
volle Würde ausgegangen; seine großzügigen Porträtskizzen in der Ambrosiana be-
stätigen, daß er Sinn für bedeutende Formgebung und ernste Auffassung hatte und
lassen ihn recht wohl geeignet erscheinen, als Kopist die Typen des Meisters dem
einseitigen Ideal des neuen Jahrhunderts anzunähern.
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