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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 4.1911

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Vorstellung vor allem die Beobachtung und Wiedergabe des einfallenden Lichtes
nötig sei, und so komponiert er sein Bild ganz von dieser Einsicht ausgehend. Er
nimmt eine große gemeinsame Lichtquelle außerhalb des Bildes an und eine kleine
im Hintergrund, und verfolgt die Wirkungen folgerichtig bis zum kleinsten Ding,
das Schatten zu werfen vermag. Die große menschliche Gestalt, wie ein Nagel-
kopf, alles wird als Körperhaftes vom Lichte getroffen und auf die Schattenwirkung
hin beobachtet. Und so ergibt sich die beinahe stereoskopische Wirkung, das
Empfinden, daß wir alles seinem Volumen nach abzutasten vermögen. Witz wäre
nicht der Mann seiner Zeit und seines Landes, wenn er auf die vexierbild-
artigen Kunststücke, die sich durch sein Verfahren fast von selbst ergeben, ver-
zichtet hätte. Da ist es ein quergestellter Balken mit allen seinen Maserungen und
Sprüngen, dort die wechselvolle Wiedergabe eines Schattens irgendwelcher sonst
nicht sichtbaren baulichen Konstruktion, dann wieder fesselt uns eine drastisch ge-
faßte Einzelheit, eine Balkenverkröpfung, ein eiserner Türgriff usw. Und doch
drängt sich weder etwas vor, noch gibt es eigentlich eine tote Stelle im Bilde.
Das unmittelbare Empfinden für die Wirklichkeit mit ihren Akzidenzien bringt immer
Leben in die Darstellung, aber was das wichtigste ist: eine künstlerische Kraft faßt
Alles wieder zusammen. Die Figuren, die Dinge sind mit dem Raum als ein ganzes
gesehen und bildmäßig in ein Abhängigkeitsverhältnis gesetzt.
Diese Art der Raumbehandlung findet sich bei keinem Meister der niederländi-
schen Frührenaissance. Der Meister von Flemalle, der von allen das stärkste Ge-
fühl für Raumgestaltung besaß, erreicht seine Wirkungen dadurch, daß er die
Körper aus dem Dunkel auftauchen läßt; aber auch er besaß nicht die Kraft in
dem Maße, wie Witz, eine Raumeinheit zu schaffen, daher nicht die Macht einen
so starken Raumeindruck hervorzurufen.
Kommt noch hinzu, daß Herbheit und Großartigkeit bei Witz der intimen Feier-
lichkeit und Feinheit der Niederländer gegenübersteht, so fehlt jede Ähnlichkeit
in der allgemeinen Grundstimmung, die schließlich die Vorbedingung der künst-
lerischen Produktion ist. Witz hat jedes Problem selbständig zu lösen versucht
und sich auch nicht an Kunstwerke seines eigenen Kunstkreises gehalten. In einer
Zeit, da eine freie Erfindung selten war, da Inhalt und Form durch Konventionen
geradezu bedingt waren, malt Witz etwas noch nicht dagewesenes. Es reizt, sich
die Wirkung vorzustellen, die sein Werk bei den Zeitgenossen ausgelöst haben mag
und man denkt an ein ähnliches Ereignis unserer Zeit, etwa an die erste Ausstellung
von Hodlers „Auszug der Studenten in den Befreiungskrieg". Wer hätte das Bild
so kühn, so einfach und neu zu denken gewagt!
In Witz vollzieht sich jene Wandlung in der deutschen Kunst, die den Schritt
vom Notwendigen zum Beliebigen, vom Allgemeinen zum Individuellen bedeutet.
Das ist nicht etwa eine Erkenntnis, die uns dieses neue Werk erschließt, wie
es uns überhaupt keine neuen Seiten der Witzschen Kunst zu zeigen hatte. Das
Bild konnte uns höchstens den erneuten Beweis erbringen, wie frei sich der Meister
von allem Fremden zu halten vermochte und wie stark er seine eigenen Wege
ging. In diesem Sinne finde ich eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis
des Konrad Witz zu den Niederländern.

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