Die Geschichte von dem verführten Kütztein.
Zweiter Bogen.
144
„Hin, Mietzerl, der Spatz gestern war gut!?" sagte der fremde Kerl des andern Tags
zmn Mietzerl. „Ja, es ist wirklich was Gutes um so ein Geflügel. Und das könnten wir öfters
haben, wenn wir nnr wollten!"
„Ja, wie so denn?" sagte darauf das Mietzerl.
„Nun drüben beim Nachbarn im Hof! Da sind z. B. junge Hühner g'rad genug, ich hab
heute früh so im Norbeigeh'n wenigstens vierzehn Stück gezählt!"
„So? Das tranete ich mir nicht, da ist weiter kein böser Gockel drüben!"
„Hm! wegen dem Gockel brauchst du dich nicht zu fürchten, mit dem wollt' ich schon fertig
werden, da hätte es keine Gefahr! Komm' nur um die Mittagszeit, wenn die Leut' all' bei
Tisch find — es geht schon, verlaß dich d'ranf!"
Wie's Mittag läutet, steigen sie richtig über die Planke und gleich geht die Hetze los.
„Mietzerl, nimm' gleich zwei!" ruft der fremde Kerl, „ich hab' ihn schon!"
„Hast du schon einmal ein Karbonadel gegessen, Mietzerl?"
„Noch gar nie!" sagt's Mietzerl, „wo kriegt man denn die?"
„Wo man's kriegt? Hm, in der Küche und im Speisezimmer. Das ist halt gar was
Gutes, besonders weun's mit Eiern gerichtet sind, da ess' ich's für mein Leben gern. Weißt du
was, Mietzerl, dein Hausherr bekömmt heut' abend welche, ich hab' schon gehört, wie die Köchin
sie geklopft hat und g'rad hat sie's angerichtcl — Teufel nochmal, wie die gut riechen! Wie
wär's denn, wenn du durchs Fenster ins Speisezimmer stiegest, ich null schon Wache halten
heranßen, damit nichts Passiert. Aber nimm gleich zwei, Mietzerl! hast du's gehört?"
„Ich weiß nit, was das ist; mir ist heut' so katzenjümmerlich, ich hab' so einen schlechten
Magen, wenn ich nur was Geselchtes hält'!"
„Was Geselchtes! ja, was ist denn das?"
„Geh', du weißt aber auch gar nichts! Ein Geselchtes ist ein geräuchertes Fleisch und schmeckt
delikat. In eurer Speisekammer wär' genug, da hängen ganze Schnüre von Salami, geh' Mietzerl,
steig' hinein und hol' eine, da kannst du gleich selbst erfahren, wie das schmeckt. Im übrigen muß
ich dir etwas sagen, Mietzerl! Du bist so blöd, so ungeschickt; man muß dir alles sagen, was du
thun sollst, überhaupt, du bist so wenig selbständig. Dn mußt ein bissel mehr Konrage zeigen,
bist ja kein Kind mehr, wie lang wirst du denn noch hin haben, bis du majorenn wirst?"
„Des andern Tages sitzt das Mietzerl in der Stube und ist ganz tiefsinnig. Die spitzigen Reden,
die der fremde Kerl gestern hat fallen lassen, wollten ihm nicht aus dem Kopfe geh'n. „Dem will
ich's doch zeigen, ob ich selbständig bin oder nicht!" Wie es so vor sich hinsinnt, fällt auf ein-
mal sein Blick auf den Kanarienvogel, der in seinem Käfig lustig von einem Stangerl zum andern
hupft. „Der müßt dazu erst recht gut schmecken," denkt's Mietzerl, „umsonst hat er den schönen
gelben Frack gewiß nicht au." Und ohne weiteres Überlegen ist das Mietzerl am Käfig und zerrt und
kratzt so lang d'ran herum, bis das Thürl aufgeht, und — unn — gute Nacht, armer Kanarienvogel!
Das war denn doch zu viel und die Frechheit zu weit getrieben! Die Geschichte mit den
jungen Hühnern, der Karbonadeldiebstahl, der Einbruch in die Speisekammer war dem Manne, der
noch dazu ein Obstler war, längst schon über die Angen gehangen, nnd jetzt, g'rad in dem Augen-
blick, wo das Mietzerl den Kanarienvogel umgcbracht hat, kommt er herein nnd packt das Mietzerl.
Der Mann, der wie gesagt, noch dazu ein Obstler Ivar, nimmt das Mietzerl nnd schleppt es
in den Keller, wo er seine Äpfel nnd Birnen anfbewahrt hat, schiebt den Riegel vor und sperrt'« ein.
Da sitzt's jetzt drunten nnd muß Mäuse faugeu, daß es nicht verhungert, denn was anderes
kriegt's nicht mehr; das Tageslicht sieht es aber nnr mehr am Kellerfcnster, wo ihr es manch-
mal könnt sitzen sehen am Wittelsbacherplatz zu München in dem großen Hause Nr. 3. Von
dem fremden Kerl hat man aber nichts mehr gehört.
Mün ch en er B ild erbo g en.
lO. Auflage.
(Alle Rechte Vorbehalten.)
Zsi«. 144
Herausgegeben und verlegt von K. Braun und F. Schneider in M ünchen.
Kgl. Hof- und Universitäts-Buchdruckerei von Or. C. WolfLSohn in München.
Zweiter Bogen.
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„Hin, Mietzerl, der Spatz gestern war gut!?" sagte der fremde Kerl des andern Tags
zmn Mietzerl. „Ja, es ist wirklich was Gutes um so ein Geflügel. Und das könnten wir öfters
haben, wenn wir nnr wollten!"
„Ja, wie so denn?" sagte darauf das Mietzerl.
„Nun drüben beim Nachbarn im Hof! Da sind z. B. junge Hühner g'rad genug, ich hab
heute früh so im Norbeigeh'n wenigstens vierzehn Stück gezählt!"
„So? Das tranete ich mir nicht, da ist weiter kein böser Gockel drüben!"
„Hm! wegen dem Gockel brauchst du dich nicht zu fürchten, mit dem wollt' ich schon fertig
werden, da hätte es keine Gefahr! Komm' nur um die Mittagszeit, wenn die Leut' all' bei
Tisch find — es geht schon, verlaß dich d'ranf!"
Wie's Mittag läutet, steigen sie richtig über die Planke und gleich geht die Hetze los.
„Mietzerl, nimm' gleich zwei!" ruft der fremde Kerl, „ich hab' ihn schon!"
„Hast du schon einmal ein Karbonadel gegessen, Mietzerl?"
„Noch gar nie!" sagt's Mietzerl, „wo kriegt man denn die?"
„Wo man's kriegt? Hm, in der Küche und im Speisezimmer. Das ist halt gar was
Gutes, besonders weun's mit Eiern gerichtet sind, da ess' ich's für mein Leben gern. Weißt du
was, Mietzerl, dein Hausherr bekömmt heut' abend welche, ich hab' schon gehört, wie die Köchin
sie geklopft hat und g'rad hat sie's angerichtcl — Teufel nochmal, wie die gut riechen! Wie
wär's denn, wenn du durchs Fenster ins Speisezimmer stiegest, ich null schon Wache halten
heranßen, damit nichts Passiert. Aber nimm gleich zwei, Mietzerl! hast du's gehört?"
„Ich weiß nit, was das ist; mir ist heut' so katzenjümmerlich, ich hab' so einen schlechten
Magen, wenn ich nur was Geselchtes hält'!"
„Was Geselchtes! ja, was ist denn das?"
„Geh', du weißt aber auch gar nichts! Ein Geselchtes ist ein geräuchertes Fleisch und schmeckt
delikat. In eurer Speisekammer wär' genug, da hängen ganze Schnüre von Salami, geh' Mietzerl,
steig' hinein und hol' eine, da kannst du gleich selbst erfahren, wie das schmeckt. Im übrigen muß
ich dir etwas sagen, Mietzerl! Du bist so blöd, so ungeschickt; man muß dir alles sagen, was du
thun sollst, überhaupt, du bist so wenig selbständig. Dn mußt ein bissel mehr Konrage zeigen,
bist ja kein Kind mehr, wie lang wirst du denn noch hin haben, bis du majorenn wirst?"
„Des andern Tages sitzt das Mietzerl in der Stube und ist ganz tiefsinnig. Die spitzigen Reden,
die der fremde Kerl gestern hat fallen lassen, wollten ihm nicht aus dem Kopfe geh'n. „Dem will
ich's doch zeigen, ob ich selbständig bin oder nicht!" Wie es so vor sich hinsinnt, fällt auf ein-
mal sein Blick auf den Kanarienvogel, der in seinem Käfig lustig von einem Stangerl zum andern
hupft. „Der müßt dazu erst recht gut schmecken," denkt's Mietzerl, „umsonst hat er den schönen
gelben Frack gewiß nicht au." Und ohne weiteres Überlegen ist das Mietzerl am Käfig und zerrt und
kratzt so lang d'ran herum, bis das Thürl aufgeht, und — unn — gute Nacht, armer Kanarienvogel!
Das war denn doch zu viel und die Frechheit zu weit getrieben! Die Geschichte mit den
jungen Hühnern, der Karbonadeldiebstahl, der Einbruch in die Speisekammer war dem Manne, der
noch dazu ein Obstler war, längst schon über die Angen gehangen, nnd jetzt, g'rad in dem Augen-
blick, wo das Mietzerl den Kanarienvogel umgcbracht hat, kommt er herein nnd packt das Mietzerl.
Der Mann, der wie gesagt, noch dazu ein Obstler Ivar, nimmt das Mietzerl nnd schleppt es
in den Keller, wo er seine Äpfel nnd Birnen anfbewahrt hat, schiebt den Riegel vor und sperrt'« ein.
Da sitzt's jetzt drunten nnd muß Mäuse faugeu, daß es nicht verhungert, denn was anderes
kriegt's nicht mehr; das Tageslicht sieht es aber nnr mehr am Kellerfcnster, wo ihr es manch-
mal könnt sitzen sehen am Wittelsbacherplatz zu München in dem großen Hause Nr. 3. Von
dem fremden Kerl hat man aber nichts mehr gehört.
Mün ch en er B ild erbo g en.
lO. Auflage.
(Alle Rechte Vorbehalten.)
Zsi«. 144
Herausgegeben und verlegt von K. Braun und F. Schneider in M ünchen.
Kgl. Hof- und Universitäts-Buchdruckerei von Or. C. WolfLSohn in München.