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Verein für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung [Hrsg.]
Nassauische Annalen: Jahrbuch des Vereins für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung — 52.1931

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Ritter, Gerhard: Die Aechtung Steins: neues Quellenmaterial zu ihrer Erklärung
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https://doi.org/10.11588/diglit.62032#0008
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G. Ritter.

Vorwand — ein hochwillkommener! — um die schleunige Unterzeichnung
eines überaus drückenden Abkommens über die Kontributionen von Preussen
zu erzwingen. Die Entlassung Steins hat er mit unzweideutigen Worten nie-
mals gefordert, obwohl er ihn durch seine Presse vor aller Welt als ebenso
schlechten Politiker wie Patrioten an den Pranger stellen liess und seinem
Bruder Jerome befahl (am 6. September), den Reichsfreiherrn als vermeint-
lichen Westfalen vor die Königlich-Westfälischen Gerichte zu laden, im Falle
der Weigerung seine Güter zu konfiszieren. Den heftigen Zornausbrüchen, mit
denen er sich über die „Verrätereien“ Steins äusserte, entsprachen zunächst
noch keineswegs die Taten. Selbst aus den Erfurter Verhandlungen im Oktober,
in denen der Minister Goltz so harte Worte über seinen Chefkollegen zu
hören bekam, wusste der Zar zu berichten, dass Bonaparte sich wahrscheinlich
mit einer Beschränkung Steins auf die inneren Geschäfte zufrieden geben würde,
ja wohl gar seine Mitwirkung dabei für wünschenswert halte, weil niemand
besser das Geld für die Kontributionen herbeizuschaffen verstünde. Mag
man nun auch das sachliche Gewicht dieser optimistischen Mitteilungen nicht
allzuhoch einschätzen — sehr auffallend bleibt es doch, dass Napoleon sich
ohne jeden ausdrücklichen Protest die monatelange Fortführung der Geschäfte
durch den vor aller Welt entlarvten „Verräter“ gefallen liess, um ihn dann,
drei Wochen nach seiner freiwillig vollzogenen Entlassung aus allen Staats-
ämtern, mitten in der spanischen Kriegsunternehmung, plötzlich für vogelfrei
zu erklären und die schon längst angedrohte, aber noch immer nicht verfügte
Beschlagnahme seiner nassauischen Güter wirklich vollstrecken zu lassen.
Zur Erklärung dieses Verhaltens hat man verschiedene Vermutungen vor-
gebracht. Graf Goltz meinte damals, Napoleon wolle offenbar die Frage der
Entlassung Steins zum Prüfstein für die Gesinnung des Königs gegen Frank-
reich machen und fordere sie darum nicht kategorisch, obwohl sein Hass gegen
den Minister grenzenlos sei. Aber ein solches Finassieren war sonst nicht die
Art des Korsen, am wenigsten gegenüber den verachteten Preussen; überdies
wäre es doch auch ein recht gefährliches Experiment gewesen. Besser leuchtet
die Konstruktion Cavaignacs ein, der auch Lehmann im wesentlichen gefolgt
ist.1) Solange Stein noch im Amt war, meint der französische Historiker, musste
Napoleon sich hüten, den Bogen nicht zu Überspannen. Jeden Augenblick drohte
der Aufstand in Norddeutschland aufzuflackern, während die französischen Truppen
grösstenteils nach Spanien abzogen. Wer mochte sagen, ob nicht die Ent-
lassung Steins, von Frankreich durch offene Gewaltdrohungen erzwungen, den
Königsberger Hof wider Willen in einen revolutionären Strudel hineinriss, der
Napoleon die Durchführung der Eroberung Spaniens bis auf weiteres unmöglich
machte, vielleicht sogar zum Signal wurde zu einer allgemeinen Erhebung der
Völker wider das französische Joch? Seit die Entlassung einmal ohne direktes
Zutun Napoleons entschieden war, fielen diese Rücksichten weg; jetzt konnte
der Korse ohne Gefahr seinem Rachebedürfnis nachgeben, vor allem: an dem
Ohnmächtigen ein Exempel statuieren, durch seine öffentliche Aechtung die
nationale Bewegung in Schrecken setzen und sie dadurch lähmen.
*) G. Cavaignac La saisie de la lettre de Stein en 1808, Revue historique t. 60
(1896) p. 69 ff. Lehmann, Frhr. vom Stein III, 9 ff.
 
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