4 I. Das Problem
deren vielfältig verzweigtes Wurzelwerk sehr in der Tiefe lagert;
wenn der Ausdruck erlaubt ist, könnte man von einem mythischen
Weltenbaume reden, dessen weitausladende Zweige die Völker des
Orients und Okzidents überschatten. In allen Wohnungen unter
diesem Riesendache sich heimisch zu machen, dazu reicht die Kraft
eines einzelnen schwerlich aus. Wo eigenes Können versagte, schien
mir besondere Vorsicht Pflicht: ohne Beratung von Kennern, deren
Namen ich an ihrem Orte dankbar, nennen werde, hätte ich mich
auf dem weiten Gebiete nicht überall zurechtgefunden. Leider führt
der Weg nicht geradeaus auf das Ziel, und der Zwang manche
Seitenpfade einzuschlagen erschwert die Darstellung. Was hat bei-
spielsweise ein aegyptisches Theologumenon, was Evangelienkritik
mit einem lateinischen Gedichte der ausgehenden Republik zu tun?
Hoffentlich gelingt es den Leser von der Notwendigkeit derartigen
Vagabundierens dadurch zu überzeugen, daß jeder Umweg neue Aus-
blicke auf das Ziel gewährt.
I. DAS PROBLEM
Das Gedicht enthält — als einziges der Sammlung — eine be-
stimmte Zeitangabe (Vers ii f.): „Unter deinem Konsulate, Pollio, wird
diese glanzreiche Zeitperiode eintreten." Hierdurch ist das Jahr 713
d. St. = 40 v. Chr. bezeichnet. Seit Generationen gilt es nun als
Tatsache, daß innerhalb dieses Jahres der Abschluß des brundisini-
schen Friedens die Voraussetzung des Gedichtes bilde; da dieser
Friede etwa im September zustande kam,1) so könne die Ekloge
nicht vor dem letzten Drittel des Jahres verfaßt sein.2) Diese An-
nahme, die sich auf kein Zeugnis stützt und ungeprüft weitergegeben
wird, hat aber eine Anzahl von Schwierigkeiten zur Folge. Nach der in
dem ganzen Gedichte festgehaltenen Idee liegt die Friedenszeit erst
in der Zukunft. Ihr Eintritt wird an die bevorstehende Geburt eines
1) J. Kromayer, Herm. XXIX (1894) $6of.: „Zwischen den letzten Tagen des
August und den ersten des Oktober — höchstwahrscheinlich also im September
selbst — ist der Brundisinische Friede geschlossen worden."
2) In dem soeben erschienenen Buche von N. W. De Witt, Virgils Biographia
litteraria (Toronto 19'23) 145 heißt es: „The date (Sept, of 40) is certain. Pollio is
consul suffectus, lines 11— 12
teque adeo decus hoc aevi, te consule inibit,
Pollio, et incipient magni procedere menses.
The autumn equinox is clearly denoted by line 50:
aspice convexo nutantem pondere inundum."
Pollio war nie suffectus, und den Vers 50 auf das Herbstaequinoktium zu beziehen
statt auf das Beben des gewölbten Weltendoms) ist unverantwortlich.
deren vielfältig verzweigtes Wurzelwerk sehr in der Tiefe lagert;
wenn der Ausdruck erlaubt ist, könnte man von einem mythischen
Weltenbaume reden, dessen weitausladende Zweige die Völker des
Orients und Okzidents überschatten. In allen Wohnungen unter
diesem Riesendache sich heimisch zu machen, dazu reicht die Kraft
eines einzelnen schwerlich aus. Wo eigenes Können versagte, schien
mir besondere Vorsicht Pflicht: ohne Beratung von Kennern, deren
Namen ich an ihrem Orte dankbar, nennen werde, hätte ich mich
auf dem weiten Gebiete nicht überall zurechtgefunden. Leider führt
der Weg nicht geradeaus auf das Ziel, und der Zwang manche
Seitenpfade einzuschlagen erschwert die Darstellung. Was hat bei-
spielsweise ein aegyptisches Theologumenon, was Evangelienkritik
mit einem lateinischen Gedichte der ausgehenden Republik zu tun?
Hoffentlich gelingt es den Leser von der Notwendigkeit derartigen
Vagabundierens dadurch zu überzeugen, daß jeder Umweg neue Aus-
blicke auf das Ziel gewährt.
I. DAS PROBLEM
Das Gedicht enthält — als einziges der Sammlung — eine be-
stimmte Zeitangabe (Vers ii f.): „Unter deinem Konsulate, Pollio, wird
diese glanzreiche Zeitperiode eintreten." Hierdurch ist das Jahr 713
d. St. = 40 v. Chr. bezeichnet. Seit Generationen gilt es nun als
Tatsache, daß innerhalb dieses Jahres der Abschluß des brundisini-
schen Friedens die Voraussetzung des Gedichtes bilde; da dieser
Friede etwa im September zustande kam,1) so könne die Ekloge
nicht vor dem letzten Drittel des Jahres verfaßt sein.2) Diese An-
nahme, die sich auf kein Zeugnis stützt und ungeprüft weitergegeben
wird, hat aber eine Anzahl von Schwierigkeiten zur Folge. Nach der in
dem ganzen Gedichte festgehaltenen Idee liegt die Friedenszeit erst
in der Zukunft. Ihr Eintritt wird an die bevorstehende Geburt eines
1) J. Kromayer, Herm. XXIX (1894) $6of.: „Zwischen den letzten Tagen des
August und den ersten des Oktober — höchstwahrscheinlich also im September
selbst — ist der Brundisinische Friede geschlossen worden."
2) In dem soeben erschienenen Buche von N. W. De Witt, Virgils Biographia
litteraria (Toronto 19'23) 145 heißt es: „The date (Sept, of 40) is certain. Pollio is
consul suffectus, lines 11— 12
teque adeo decus hoc aevi, te consule inibit,
Pollio, et incipient magni procedere menses.
The autumn equinox is clearly denoted by line 50:
aspice convexo nutantem pondere inundum."
Pollio war nie suffectus, und den Vers 50 auf das Herbstaequinoktium zu beziehen
statt auf das Beben des gewölbten Weltendoms) ist unverantwortlich.