VON REPRESSIVER MILDE ZU POLITISCHER BEWÄLTIGUNG
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aus dieser Perspektive eine ausserordentliche Zeit [...], wo der bravste Bürger für durchaus
erlaubt hielt, was ihm jetzt die Gerichte als Hochverrath anrechnen54'. Die Petenten hiel-
ten die strafrechtlichen Verfahren durchweg für ungeeignet, das Land zu befrieden, ja
sogar für konfliktverschärfend. Fast schon drohend war die Rede von einem Gefühl erlit-
tener Rechtskränkung und bedenkliche[r] Mißstimmung, welche beim Vollzug der
gerichtlichen Urtheile im ganzen Lande verbreitet würde5'5. Nur eine Amnestie mit allsei-
tigem Vergessen konnte nach dieser Logik den politischen Ausnahmezustand beenden
und so das allgemeine Recht wieder in Kraft setzen. Diese Vorstellung war keineswegs aus
der Luft gegriffen, sondern ruhte auf einer soliden rechtsphilosophischen Basis. Dass zur
Beendigung einer Revolution [...] die Publication eines Gesetzes der Vergessenheit not-
wendig sei, hatten in den zurückliegenden Jahrzehnten etwa der in Heidelberg lehrende
Carl Salomo Zachariä36 und der im deutschen Vormärz sehr aufmerksam rezipierte fran-
zösische Staatsrechtler Benjamin Constant vertreten37. Direkt im Anschluss an die Revo-
lution verfocht diese Ansicht auch der damals suspendierte badische Hofgerichtsadvokat
Heinrich v. Feder, der als Verteidiger am berühmten Schwurgerichtsprozess gegen Gustav
Struve und Karl Blind teilgenommen hatte und später zu einem der prominentesten badi-
schen Demokraten avancieren sollte38.
Mit einer derart begründeten und zugeschnittenen Amnestie kalkulierten offenbar
zunächst auch Angehörige der großherzoglichen Behörden. Ihre Strategie orientierte sich
an der Bewältigung des gut ein Jahr zurückliegenden Heckerzuges, als man - mutmaßlich
abschreckende - Massenverhaftungen kombiniert hatte mit einer weitreichenden und
nach Vorstellung der Verantwortlichen versöhnenden Amnestie für Minderbelastete, die
P. Nolte, Gemeindebürgertum und Liberalismus in Baden 1800-1850. Tradition - Radikalismus -
Republik, Göttingen 1994, S. 390-414.
34 So die Stockacher Petition, GLA 234/10176, fol. 173-179, hier fol. 174v-175r.
35 Ebd., fol. 176.
36 C. S. Zachariä, Vierzig Bücher vom Staate, 3. Bd., Heidelberg 1839. 15. Buch: Der allgemeine
Theil der Verfassungslehre, das Zitat S. 90. Und weiter heißt es dort: Diese Vergessenheit ist Rechtens,
denn kann wohl überhaupt von einem Verbrechen, in der urkundlich-rechtlichen Bedeutung des
Wortes, die Rede sein, so lange nicht das Gesetz, sondern physische Macht waltet? - Diese Vergessen-
heit ist eine Forderung der Menschlichkeit. Es ist ein Leichtes, in den Tagen der wiederhergestellten
Ruhe zu lehren und zu predigen, was man in den Tagen der Gefahr hätte thun können oder sollen;
desto schwerer ist es, den Tod im Angesichte, zu überlegen und zu handeln, wie man handeln soll. -
Diese Vergessenheit ist ein Rath der Klugheit. Gemüthskrankheiten kehren leicht zurück, wenn der
Genesene den Ort seines früheren Leidens wiedererblickt. Eine Regierung, welche nach Beendigung
einer Revolution unversöhnlich gegen die Vergangenheit ist, verräth Mißtrauen in die Gegenwart.
Konzise Informationen zu Zachariä (1769-1843) bei M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen
Rechts in Deutschland. 2. Bd.: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800-1914. München
1992, S. 169-172.
37 Vgl. Freund (wie Anm. 7), S. 175f. Zu Constant und seiner Wirkung L. Gall, Benjamin Con-
stant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz, Wiesbaden 1963.
38 H. v. Feder, Das Staatsverbrechen des Hochverraths nach den Rechtsbegriffen der Vorzeit und
der Gegenwart. Ein Handbüchlein für den deutschen Bürger und Rechtsgelehrten, insbesondere
auch für Geschworne, Stuttgart 1850, S. 148 f., wo Feder direkt Bezug nimmt auf seinen Lehrer
Zachariä. Vgl. F. Engehausen, Heinrich von Feder. Der politische Werdegang eines badischen
Demokraten im 19. Jahrhundert, Mannheim 1997, v.a. S. 27-29.
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aus dieser Perspektive eine ausserordentliche Zeit [...], wo der bravste Bürger für durchaus
erlaubt hielt, was ihm jetzt die Gerichte als Hochverrath anrechnen54'. Die Petenten hiel-
ten die strafrechtlichen Verfahren durchweg für ungeeignet, das Land zu befrieden, ja
sogar für konfliktverschärfend. Fast schon drohend war die Rede von einem Gefühl erlit-
tener Rechtskränkung und bedenkliche[r] Mißstimmung, welche beim Vollzug der
gerichtlichen Urtheile im ganzen Lande verbreitet würde5'5. Nur eine Amnestie mit allsei-
tigem Vergessen konnte nach dieser Logik den politischen Ausnahmezustand beenden
und so das allgemeine Recht wieder in Kraft setzen. Diese Vorstellung war keineswegs aus
der Luft gegriffen, sondern ruhte auf einer soliden rechtsphilosophischen Basis. Dass zur
Beendigung einer Revolution [...] die Publication eines Gesetzes der Vergessenheit not-
wendig sei, hatten in den zurückliegenden Jahrzehnten etwa der in Heidelberg lehrende
Carl Salomo Zachariä36 und der im deutschen Vormärz sehr aufmerksam rezipierte fran-
zösische Staatsrechtler Benjamin Constant vertreten37. Direkt im Anschluss an die Revo-
lution verfocht diese Ansicht auch der damals suspendierte badische Hofgerichtsadvokat
Heinrich v. Feder, der als Verteidiger am berühmten Schwurgerichtsprozess gegen Gustav
Struve und Karl Blind teilgenommen hatte und später zu einem der prominentesten badi-
schen Demokraten avancieren sollte38.
Mit einer derart begründeten und zugeschnittenen Amnestie kalkulierten offenbar
zunächst auch Angehörige der großherzoglichen Behörden. Ihre Strategie orientierte sich
an der Bewältigung des gut ein Jahr zurückliegenden Heckerzuges, als man - mutmaßlich
abschreckende - Massenverhaftungen kombiniert hatte mit einer weitreichenden und
nach Vorstellung der Verantwortlichen versöhnenden Amnestie für Minderbelastete, die
P. Nolte, Gemeindebürgertum und Liberalismus in Baden 1800-1850. Tradition - Radikalismus -
Republik, Göttingen 1994, S. 390-414.
34 So die Stockacher Petition, GLA 234/10176, fol. 173-179, hier fol. 174v-175r.
35 Ebd., fol. 176.
36 C. S. Zachariä, Vierzig Bücher vom Staate, 3. Bd., Heidelberg 1839. 15. Buch: Der allgemeine
Theil der Verfassungslehre, das Zitat S. 90. Und weiter heißt es dort: Diese Vergessenheit ist Rechtens,
denn kann wohl überhaupt von einem Verbrechen, in der urkundlich-rechtlichen Bedeutung des
Wortes, die Rede sein, so lange nicht das Gesetz, sondern physische Macht waltet? - Diese Vergessen-
heit ist eine Forderung der Menschlichkeit. Es ist ein Leichtes, in den Tagen der wiederhergestellten
Ruhe zu lehren und zu predigen, was man in den Tagen der Gefahr hätte thun können oder sollen;
desto schwerer ist es, den Tod im Angesichte, zu überlegen und zu handeln, wie man handeln soll. -
Diese Vergessenheit ist ein Rath der Klugheit. Gemüthskrankheiten kehren leicht zurück, wenn der
Genesene den Ort seines früheren Leidens wiedererblickt. Eine Regierung, welche nach Beendigung
einer Revolution unversöhnlich gegen die Vergangenheit ist, verräth Mißtrauen in die Gegenwart.
Konzise Informationen zu Zachariä (1769-1843) bei M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen
Rechts in Deutschland. 2. Bd.: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800-1914. München
1992, S. 169-172.
37 Vgl. Freund (wie Anm. 7), S. 175f. Zu Constant und seiner Wirkung L. Gall, Benjamin Con-
stant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz, Wiesbaden 1963.
38 H. v. Feder, Das Staatsverbrechen des Hochverraths nach den Rechtsbegriffen der Vorzeit und
der Gegenwart. Ein Handbüchlein für den deutschen Bürger und Rechtsgelehrten, insbesondere
auch für Geschworne, Stuttgart 1850, S. 148 f., wo Feder direkt Bezug nimmt auf seinen Lehrer
Zachariä. Vgl. F. Engehausen, Heinrich von Feder. Der politische Werdegang eines badischen
Demokraten im 19. Jahrhundert, Mannheim 1997, v.a. S. 27-29.