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ungebührliche Zumutung eines Gastes energisch zurückwies und
deshalb ein Wortwechsel zwischen Kellnerin und Gast entstanden
war. Daß meine Ausführungen nicht übertrieben sind, dafür
mögen folgende Worte der Kellnerin Lina Haas15) aus ihrem Auf-
sätze über das Kellnerinnenelend dienen:
»Und welche Erfordernisse werden an den Charakter gestellt!
Man mag zu Tode betrübt oder bis zum Stumpfsinn erschöpft
sein, jeder Gast, und mag er der unliebenswürdigste, wunderlichste
oder vielleicht gar der widerlichste Mensch sein, verlangt für sich
und gerade für sich speziell ein freundliches Lächeln, ein bereit-
williges Eingehen auf seine Wünsche, seine Stimmungen, seine
Launen. Und der Dank für das alles ? Die Geringschätzung, die
man eben der Kellnerin schuldig zu sein glaubt und die sich bei
dem einen in dreisten Angriffen, bei dem andern in kalter Nicht-
achtung und bei allen in dem hingeschobenen Zehneri ausdrückt,
welches die Beziehungen zu Gast und Bedienung zu besiegeln
pflegt.«
Fast allein die Trinkgelder mit Nebenabsichten erklären es,
daß in demselben Lokale bei gleicher Gästezahl die eine Kell-
nerin größere Tageseinnahmen erzielt als die andere, weil sie
eben leichter auf die Absichten der Gäste eingeht. Zugleich ist
auch dadurch die Höhe der Trinkgeldereinnahmen zu verstehen.
So beträgt im Durchschnitt die Tageseinnahme Mk. 4,— bis Mk. 5,—
und in manchen Betrieben sind solche von Mk. 15,— bis Mk. 20,—
nichts Außergewöhnliches, und gerade die letzteren dienen als
Lockmittel, die immer neue Mädchen dem Berufe zuführen.
Nun zur Frage, wie man gegen eine derartige Unsitte — denn
eine solche ist das Trinkgeld geworden — vorgehen kann. Man
trat zunächst dem Gedanken näher, das Trinkgeld ganz abzu-
schaffen und an seine Stelle Gehalt einzuführen. Für die Bedie-
nung sollte dann ein bestimmter Aufschlag auf die Rechnung ge-
stellt werden. Dieser Vorschlag ist bei dem jetzigen Kellnerinnen-
material schwer durchzuführen: denn es fielen ja damit jene Trink-
gelder mit Nebenabsichten weg, die einen großen Teil der Kell-
nerinnen nur ungern entbehrt. Zugleich wäre aber mit diesem
Gehalt eine Kündigungsfrist verbunden, womit nicht immer beide
Teile zufrieden sind.

15) Lina Haas. Kellnerinnenelend. (Zeit. Nationalsoziale Wochenschrift.
Juli 1902.)

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