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Wissen über das Recht der Franken im 9. Jahrhundert
Vielgestaltigkeit der Handschriften zeigt die fehlende Direktive der Könige. Jede
Handschrift ist einzigartig. Auch die vereinzelten Exemplare, die als Teilkopien
anderer Handschriften zu werten sind, haben in der Regel das Material neu
arrangiert und ihm ein eigenes Gepräge verliehen.4 Die Vielgestaltigkeit ist somit
ein sicheres Indiz für die lokal geprägten Umstände der Handschriftenproduk-
tion. Die regionalen Amtsträger und kirchlichen Institutionen reagierten darauf,
dass die Könige die Konsultation des Schriftrechts forderten, in ihren Kapitu-
larien häufig auf die leges als normative Grundordnung Bezug nahmen und ihre
eigene Herrschaft als gesetz- und rechtmäßig stilisierten. Was aber in der Region
für relevant angesehen und kopiert wurde, war nicht durch die Zentrale vor-
gegeben. In den Handschriften schlägt sich somit das lokale Wissen über das
Recht nieder.
Was wissen wir aber über die Besitzer der Handschriften, ihre Motive und
ihre Visionen vom Recht? Die Informationen dazu sind reich, aber nicht so reich,
wie sie sein könnten. Die politische Signifikanz der Lex Salica für die französische
Monarchie brachte es mit sich, dass viele Handschriften schon seit dem
16. Jahrhundert häufig ihre Besitzer wechselten, in die königliche Bibliothek
wanderten und damit aus den ursprünglichen Überlieferungszusammenhängen
herausgerissen wurden. Informationen zur Besitzgeschichte, die in Einbänden
und vorgeklebten Blättern versteckt sind, gingen dadurch unwiederbringlich
verloren. Die Lokalisierung und Datierung von Handschriften beruht daher oft
allein auf paläographischem Urteil. Ein weiteres Hindernis für die Erforschung
der Textgeschichte ist der Stand der Aufarbeitung frühmittelalterlicher Rechts-
quellen. Mit Ausnahme der Lex Ribuaria5 gibt es für keines der weltlichen
Rechtsbücher aus dem Frankenreich eine befriedigende Edition und eine ab-
schließende Aufarbeitung der Textgeschichte. Für die Kapitularien trifft dies
ebenfalls zu. Im folgenden Kapitel präsentiere ich somit nur vorläufige Ergeb-
nisse in einem sich rasch verändernden Feld.
Weltliches Recht, die Laien und das kleine Format
Die vordringlichste Frage scheint das Verhältnis zwischen klerikalem und lai-
kalem Besitz von Lex Sa/ica-Handschriften zu sein. Wenn Wallace-Hadrill,
Murray und andere mit ihrer Vermutung Recht haben, dass allein ein „anti-
quarisches"6 Interesse für die Verbreitung des Rechtsbuchs verantwortlich ge-
wesen sei, müssten wir eine vorwiegend kirchliche, ja sogar weitgehend mo-
nastische Überlieferung erwarten. Zum allergrößten Teil ist das auch richtig -
was aber vor allem mit der Kontinuität kirchlicher Institutionen zu erklären ist.
4 Vgl. z. B. die eng verwandten Handschriften Paris lat. 10758 und Paris lat. 4628A, Inhalt bei
Mordek, Bibliotheca, S. 488-501 und 587-605 sowie Schmetz, Einleitung, S. 276-278.
5 Buchner, Textkritische Untersuchungen, der sich aber auf die textgeschichtlich ursrpünglichere A-
Fassung des Rechtsbuchs beschränkte.
6 Siehe oben S. 176.
Wissen über das Recht der Franken im 9. Jahrhundert
Vielgestaltigkeit der Handschriften zeigt die fehlende Direktive der Könige. Jede
Handschrift ist einzigartig. Auch die vereinzelten Exemplare, die als Teilkopien
anderer Handschriften zu werten sind, haben in der Regel das Material neu
arrangiert und ihm ein eigenes Gepräge verliehen.4 Die Vielgestaltigkeit ist somit
ein sicheres Indiz für die lokal geprägten Umstände der Handschriftenproduk-
tion. Die regionalen Amtsträger und kirchlichen Institutionen reagierten darauf,
dass die Könige die Konsultation des Schriftrechts forderten, in ihren Kapitu-
larien häufig auf die leges als normative Grundordnung Bezug nahmen und ihre
eigene Herrschaft als gesetz- und rechtmäßig stilisierten. Was aber in der Region
für relevant angesehen und kopiert wurde, war nicht durch die Zentrale vor-
gegeben. In den Handschriften schlägt sich somit das lokale Wissen über das
Recht nieder.
Was wissen wir aber über die Besitzer der Handschriften, ihre Motive und
ihre Visionen vom Recht? Die Informationen dazu sind reich, aber nicht so reich,
wie sie sein könnten. Die politische Signifikanz der Lex Salica für die französische
Monarchie brachte es mit sich, dass viele Handschriften schon seit dem
16. Jahrhundert häufig ihre Besitzer wechselten, in die königliche Bibliothek
wanderten und damit aus den ursprünglichen Überlieferungszusammenhängen
herausgerissen wurden. Informationen zur Besitzgeschichte, die in Einbänden
und vorgeklebten Blättern versteckt sind, gingen dadurch unwiederbringlich
verloren. Die Lokalisierung und Datierung von Handschriften beruht daher oft
allein auf paläographischem Urteil. Ein weiteres Hindernis für die Erforschung
der Textgeschichte ist der Stand der Aufarbeitung frühmittelalterlicher Rechts-
quellen. Mit Ausnahme der Lex Ribuaria5 gibt es für keines der weltlichen
Rechtsbücher aus dem Frankenreich eine befriedigende Edition und eine ab-
schließende Aufarbeitung der Textgeschichte. Für die Kapitularien trifft dies
ebenfalls zu. Im folgenden Kapitel präsentiere ich somit nur vorläufige Ergeb-
nisse in einem sich rasch verändernden Feld.
Weltliches Recht, die Laien und das kleine Format
Die vordringlichste Frage scheint das Verhältnis zwischen klerikalem und lai-
kalem Besitz von Lex Sa/ica-Handschriften zu sein. Wenn Wallace-Hadrill,
Murray und andere mit ihrer Vermutung Recht haben, dass allein ein „anti-
quarisches"6 Interesse für die Verbreitung des Rechtsbuchs verantwortlich ge-
wesen sei, müssten wir eine vorwiegend kirchliche, ja sogar weitgehend mo-
nastische Überlieferung erwarten. Zum allergrößten Teil ist das auch richtig -
was aber vor allem mit der Kontinuität kirchlicher Institutionen zu erklären ist.
4 Vgl. z. B. die eng verwandten Handschriften Paris lat. 10758 und Paris lat. 4628A, Inhalt bei
Mordek, Bibliotheca, S. 488-501 und 587-605 sowie Schmetz, Einleitung, S. 276-278.
5 Buchner, Textkritische Untersuchungen, der sich aber auf die textgeschichtlich ursrpünglichere A-
Fassung des Rechtsbuchs beschränkte.
6 Siehe oben S. 176.