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Schluss: Für eine andere Rechtsgeschichte
there cannot be a legal system that is based on equity and justice."6 War das frühe
Mittelalter folglich ein Zeitalter ohne Recht und Gerechtigkeit?
Dieses Bild der europäischen Rechtsgeschichte war nicht immer vorherr-
schend. Die deutsche Rechtsgeschichte war im Gegenteil der Überzeugung, dass
wesentliche Errungenschaften wie die bürgerliche Freiheit, die genossenschaft-
liche Organisation und die Grundzüge einer demokratischen Ordnung auf die
Frühzeit der Germanen zurückgehen. Otto von Giercke leitete daraus um 1900
die Relevanz des deutschen Rechts für die Kodifikation des Bürgerlichen Ge-
setzbuchs ab. Heinrich Brunner, der Altmeister dieser Disziplin, sah im germa-
nischen Recht „den Ausgangspunkt für die geschichtliche Erkenntnis der
Rechtszustände ganz Europas und seiner Kolonien"7. Auch ohne eine solche
Zuspitzung lebte diese Auffassung noch in den Arbeiten einer Reihe von ein-
flussreichen Historikern der Mitte des 20. Jahrhunderts wie Otto Hintze, Charles
McIlwain und Walter Ullmann weiter.8 Der Schwerpunkt der Argumentation
verlagerte sich dabei jedoch vom germanischen Recht der Urzeit zum Prinzip der
Gegenseitigkeit im Lehnswesen und damit zu einer Einrichtung, die als Inno-
vation der Karolingerzeit angesehen wurde. Diese Narrative zehrten aber wei-
terhin vom Erbe des germanistischen Paradigmas und büßten mit der Kritik an
der Vorstellung eines deutschen Rechts seit den 1960er Jahren an Überzeu-
gungskraft ein.9 Nach der Fundamentalkritik von Susan Reynolds10, die das
Lehnswesen in Teilen als Erfindung der Rechtswissenschaft des 12. Jahrhunderts
erweist, scheint diese Möglichkeit endgültig verbaut, dem frühen Mittelalter eine
eigene Relevanz in der Rechtsgeschichte zu verleihen.11
Im vorliegenden Buch möchte ich die Geschichte der Lex Salica nicht in ein
Narrativ der Herausbildung der modernen Rechtsordnung einbetten und daher
auch nicht die Idee eines Wandels im 12. Jahrhundert in Frage stellen. Das Buch
6 Pennington, Big Bang, S. 45. Vgl. Lesaffer, Legal History, S. 186f., der dem frühen Mittelalter „little
significance for the emergence of legal science in the Latin West" zuschreibt. Auch die Unter-
scheidung zwischen erstem und zweitem Mittelalter beruht auf diesem Paradigma: Dilcher,
Rechtsgewohnheit.
7 Siehe oben S. 21 Anm. 39.
8 Hintze, Bedingungen; McIlwain, Constitutionalism; Ullmann, Principles of Government.
9 Zur Kritik an der deutschen Rechtsgeschichte siehe oben S. 24. Das Konzept des constitutionalism
wurde von Brian Tierney seit den 1950er Jahren aus dem germanistischen Zusammenhang
gelöst und für das 12. Jahrhundert vereinnahmt: Tierney, Foundations; ders., Constitutional
Thought. Ullmanns Vorstellung von einer germanistischen Grundlage der „aszendenten"
Herrschaftstheorie kam ebenfalls in die Kritik: Oakley, Celestial Hierarchies.
10 Reynolds, Fiefs and Vassals. Die weitere Diskussion ist dokumentiert in Kasten, Lehnswesen;
Dendorfer/Deutinger (Hg.), Lehnswesen; SpieB (Hg.), Ausbildung.
11 In den letzten Jahren sind in der deutschen Geschichtswissenschaft erneut Versuche unter-
nommen worden, das frühe Mittelalter in eine umfassende Modernisierungsthese einzubinden.
Für Bernd Schneidmüller ist die Karolingerzeit der Ursprung von „konsensualer Herrschaft",
der er einen „zukunftsweisenden Rang" und ein „beträchtliches Innovationspotential für die
deutsche Geschichte" zuschreibt: Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft, S. 64. Die Zeit der
Karolinger betrachtet auch Gerd Althoff als den Beginn der Praxis der Beratung, die „eine
gewisse Kontrollfunktion gegenüber der Königsherrschaft etablierte, die herrscherlicher Willkür
Grenzen setzen konnte": Althoff, Kontrolle der Macht, S. 10.
Schluss: Für eine andere Rechtsgeschichte
there cannot be a legal system that is based on equity and justice."6 War das frühe
Mittelalter folglich ein Zeitalter ohne Recht und Gerechtigkeit?
Dieses Bild der europäischen Rechtsgeschichte war nicht immer vorherr-
schend. Die deutsche Rechtsgeschichte war im Gegenteil der Überzeugung, dass
wesentliche Errungenschaften wie die bürgerliche Freiheit, die genossenschaft-
liche Organisation und die Grundzüge einer demokratischen Ordnung auf die
Frühzeit der Germanen zurückgehen. Otto von Giercke leitete daraus um 1900
die Relevanz des deutschen Rechts für die Kodifikation des Bürgerlichen Ge-
setzbuchs ab. Heinrich Brunner, der Altmeister dieser Disziplin, sah im germa-
nischen Recht „den Ausgangspunkt für die geschichtliche Erkenntnis der
Rechtszustände ganz Europas und seiner Kolonien"7. Auch ohne eine solche
Zuspitzung lebte diese Auffassung noch in den Arbeiten einer Reihe von ein-
flussreichen Historikern der Mitte des 20. Jahrhunderts wie Otto Hintze, Charles
McIlwain und Walter Ullmann weiter.8 Der Schwerpunkt der Argumentation
verlagerte sich dabei jedoch vom germanischen Recht der Urzeit zum Prinzip der
Gegenseitigkeit im Lehnswesen und damit zu einer Einrichtung, die als Inno-
vation der Karolingerzeit angesehen wurde. Diese Narrative zehrten aber wei-
terhin vom Erbe des germanistischen Paradigmas und büßten mit der Kritik an
der Vorstellung eines deutschen Rechts seit den 1960er Jahren an Überzeu-
gungskraft ein.9 Nach der Fundamentalkritik von Susan Reynolds10, die das
Lehnswesen in Teilen als Erfindung der Rechtswissenschaft des 12. Jahrhunderts
erweist, scheint diese Möglichkeit endgültig verbaut, dem frühen Mittelalter eine
eigene Relevanz in der Rechtsgeschichte zu verleihen.11
Im vorliegenden Buch möchte ich die Geschichte der Lex Salica nicht in ein
Narrativ der Herausbildung der modernen Rechtsordnung einbetten und daher
auch nicht die Idee eines Wandels im 12. Jahrhundert in Frage stellen. Das Buch
6 Pennington, Big Bang, S. 45. Vgl. Lesaffer, Legal History, S. 186f., der dem frühen Mittelalter „little
significance for the emergence of legal science in the Latin West" zuschreibt. Auch die Unter-
scheidung zwischen erstem und zweitem Mittelalter beruht auf diesem Paradigma: Dilcher,
Rechtsgewohnheit.
7 Siehe oben S. 21 Anm. 39.
8 Hintze, Bedingungen; McIlwain, Constitutionalism; Ullmann, Principles of Government.
9 Zur Kritik an der deutschen Rechtsgeschichte siehe oben S. 24. Das Konzept des constitutionalism
wurde von Brian Tierney seit den 1950er Jahren aus dem germanistischen Zusammenhang
gelöst und für das 12. Jahrhundert vereinnahmt: Tierney, Foundations; ders., Constitutional
Thought. Ullmanns Vorstellung von einer germanistischen Grundlage der „aszendenten"
Herrschaftstheorie kam ebenfalls in die Kritik: Oakley, Celestial Hierarchies.
10 Reynolds, Fiefs and Vassals. Die weitere Diskussion ist dokumentiert in Kasten, Lehnswesen;
Dendorfer/Deutinger (Hg.), Lehnswesen; SpieB (Hg.), Ausbildung.
11 In den letzten Jahren sind in der deutschen Geschichtswissenschaft erneut Versuche unter-
nommen worden, das frühe Mittelalter in eine umfassende Modernisierungsthese einzubinden.
Für Bernd Schneidmüller ist die Karolingerzeit der Ursprung von „konsensualer Herrschaft",
der er einen „zukunftsweisenden Rang" und ein „beträchtliches Innovationspotential für die
deutsche Geschichte" zuschreibt: Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft, S. 64. Die Zeit der
Karolinger betrachtet auch Gerd Althoff als den Beginn der Praxis der Beratung, die „eine
gewisse Kontrollfunktion gegenüber der Königsherrschaft etablierte, die herrscherlicher Willkür
Grenzen setzen konnte": Althoff, Kontrolle der Macht, S. 10.