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Schluss: Für eine andere Rechtsgeschichte
bauen könnte. War die Zwischenzeit aber nicht von feudaler Anarchie, vom
Zerfall der Staatlichkeit und von der Usurpation königlicher Rechte gekenn-
zeichnet? Dieses Bild vom „dunklen" 10. Jahrhundert, welches die Idee einer
Revolution des Rechts fundierte, ist in den letzten Jahrzehnten allerdings in die
Kritik geraten. Dominique Barthelemy hat gute Gründe dafür ins Feld geführt,
dass der Wandel weit weniger abrupt und dramatisch verlief, als die ältere
Forschung angenommen hatte.19 Mit der Krise des Königtums um 900 sind nach
Barthelemy nicht alle Errungenschaften der Karolinger zerstört worden, weil die
politische Kultur zwar vom Hof getragen, aber nicht allein dort verankert war.
Die Rechtskultur war vielmehr regional verwurzelt, sowohl hinsichtlich des
Besitzes von Rechtsbüchern als auch hinsichtlich des Selbstverständnisses der
Amtsträger.20
Ein Blick auf die Geschichte der Lex Salica nach Karl dem Kahlen bestätigt
diesen Befund. Wie in den letzten Kapiteln gezeigt, wurde zwar am Hof der
Karolinger das fränkische Rechtsbuch allmählich durch die Sammlung des
Ansegis ersetzt.21 Karl der Kahle verlor weitgehend das Interesse an der Be-
wahrung des fränkischen Rechtsbuchs, welches sich kaum für seine königliche
Rechtspolitik eignete.22 Trotz dieser fehlenden Relevanz der Lex Salica für das
Königtum sind weiterhin an vielen Orten Handschriften des fränkischen
Rechtsbuchs hergestellt worden: Von den 16 Handschriften des 10. Jahrhunderts
sind 10 im Westfrankenreich entstanden, und zwar an so verschiedenen Orten
wie dem normannischen Fecamp, dem burgundischen Mäcon, Saint-Denis,
19 Barthelemy, La mutation. Vgl. zuletzt West, Feudal Revolution.
20 Barthelemy, L'an mil, S. 58 f.: „Au vrai, la destruction du palais carolingien comme embryon de
gouvernement royal fort ne peut pas avoir provoque le naufrage de cette civilisation, car elle etait
loin d'y resider tout entiere. Pas de grande bibliotheque centrale, avec mille livres, comme ä
Constantinople ou Bagdad, mais des dizaines de bibliotheques d'eveques, d'abbes, qui ont une
petite centaine de livres chacune - presque les memes... Elles ne sauraient brüler toutes ! Seule la
haute aristocratie relevait vraiment de la justice du palais ; la defaillance de cette justice ne
signifie pas necessairement celle des justices de pays, qüelle-meme, la haute aristocratie,
continue de faire fonctionner. Meme ebranlees, ces structures locales sont comme toutes celles du
IXe siecle, legeres et assurement plus vulnerables que celles d'epoques plus modernes, mais
impossibles ä detruire toutes et assez faciles ä retablir. Elles ont les qualites de leurs defauts." Vgl.
auch Guillot, Formes, S. 115, zum „esprit attentif au droit" im 10. Jahrhundert sowie ders., Une
lettre.
21 Ein Paradebeispiel aus dem frühen 10. Jahrhundert ist die Handschrift Bamberg, SB, Can. 12, in
der die Begleittexte der Lex Salica mit der Sammlung des Ansegis kombiniert wurden, das
fränkische Rechtsbuch selbst aber weggelassen wurde.
22 Auch in den Urkunden der Könige ist die Lex Salica nach dem Ende des 9. Jahrhunderts nicht
mehr präsent. Der Robertiner Odo war der letzte, der noch die fränkische Freilassung secundum
legem salicam durch Schatzwurf praktizierte und in einer Urkunde aus dem Jahr 890 protokol-
lieren ließ. Recueil des actes d'Eudes, S. 77 (D 17). Die Nachfahren seines Bruders, die seit 987
regierenden Kapetinger, bedienten sich im 11. Jahrhundert bereits römisch-rechtlicher Freilas-
sungsformeln: Recueil des actes de Philippe Ier, S. 118 (D 41). Vgl. Maass, Freilassung, S. 119 und
126. Die letzte Urkunde im Ostfrankenreich, die beim Schatzwurf auf die Lex Salica verweist,
stammt von Heinrich I.: Die Urkunden Konrad I., Heinrich I. und Otto I., S. 47 (D H I. 10). Danach
wurde dieser Verweis weggelassen, das Ritual aber noch praktiziert.
Schluss: Für eine andere Rechtsgeschichte
bauen könnte. War die Zwischenzeit aber nicht von feudaler Anarchie, vom
Zerfall der Staatlichkeit und von der Usurpation königlicher Rechte gekenn-
zeichnet? Dieses Bild vom „dunklen" 10. Jahrhundert, welches die Idee einer
Revolution des Rechts fundierte, ist in den letzten Jahrzehnten allerdings in die
Kritik geraten. Dominique Barthelemy hat gute Gründe dafür ins Feld geführt,
dass der Wandel weit weniger abrupt und dramatisch verlief, als die ältere
Forschung angenommen hatte.19 Mit der Krise des Königtums um 900 sind nach
Barthelemy nicht alle Errungenschaften der Karolinger zerstört worden, weil die
politische Kultur zwar vom Hof getragen, aber nicht allein dort verankert war.
Die Rechtskultur war vielmehr regional verwurzelt, sowohl hinsichtlich des
Besitzes von Rechtsbüchern als auch hinsichtlich des Selbstverständnisses der
Amtsträger.20
Ein Blick auf die Geschichte der Lex Salica nach Karl dem Kahlen bestätigt
diesen Befund. Wie in den letzten Kapiteln gezeigt, wurde zwar am Hof der
Karolinger das fränkische Rechtsbuch allmählich durch die Sammlung des
Ansegis ersetzt.21 Karl der Kahle verlor weitgehend das Interesse an der Be-
wahrung des fränkischen Rechtsbuchs, welches sich kaum für seine königliche
Rechtspolitik eignete.22 Trotz dieser fehlenden Relevanz der Lex Salica für das
Königtum sind weiterhin an vielen Orten Handschriften des fränkischen
Rechtsbuchs hergestellt worden: Von den 16 Handschriften des 10. Jahrhunderts
sind 10 im Westfrankenreich entstanden, und zwar an so verschiedenen Orten
wie dem normannischen Fecamp, dem burgundischen Mäcon, Saint-Denis,
19 Barthelemy, La mutation. Vgl. zuletzt West, Feudal Revolution.
20 Barthelemy, L'an mil, S. 58 f.: „Au vrai, la destruction du palais carolingien comme embryon de
gouvernement royal fort ne peut pas avoir provoque le naufrage de cette civilisation, car elle etait
loin d'y resider tout entiere. Pas de grande bibliotheque centrale, avec mille livres, comme ä
Constantinople ou Bagdad, mais des dizaines de bibliotheques d'eveques, d'abbes, qui ont une
petite centaine de livres chacune - presque les memes... Elles ne sauraient brüler toutes ! Seule la
haute aristocratie relevait vraiment de la justice du palais ; la defaillance de cette justice ne
signifie pas necessairement celle des justices de pays, qüelle-meme, la haute aristocratie,
continue de faire fonctionner. Meme ebranlees, ces structures locales sont comme toutes celles du
IXe siecle, legeres et assurement plus vulnerables que celles d'epoques plus modernes, mais
impossibles ä detruire toutes et assez faciles ä retablir. Elles ont les qualites de leurs defauts." Vgl.
auch Guillot, Formes, S. 115, zum „esprit attentif au droit" im 10. Jahrhundert sowie ders., Une
lettre.
21 Ein Paradebeispiel aus dem frühen 10. Jahrhundert ist die Handschrift Bamberg, SB, Can. 12, in
der die Begleittexte der Lex Salica mit der Sammlung des Ansegis kombiniert wurden, das
fränkische Rechtsbuch selbst aber weggelassen wurde.
22 Auch in den Urkunden der Könige ist die Lex Salica nach dem Ende des 9. Jahrhunderts nicht
mehr präsent. Der Robertiner Odo war der letzte, der noch die fränkische Freilassung secundum
legem salicam durch Schatzwurf praktizierte und in einer Urkunde aus dem Jahr 890 protokol-
lieren ließ. Recueil des actes d'Eudes, S. 77 (D 17). Die Nachfahren seines Bruders, die seit 987
regierenden Kapetinger, bedienten sich im 11. Jahrhundert bereits römisch-rechtlicher Freilas-
sungsformeln: Recueil des actes de Philippe Ier, S. 118 (D 41). Vgl. Maass, Freilassung, S. 119 und
126. Die letzte Urkunde im Ostfrankenreich, die beim Schatzwurf auf die Lex Salica verweist,
stammt von Heinrich I.: Die Urkunden Konrad I., Heinrich I. und Otto I., S. 47 (D H I. 10). Danach
wurde dieser Verweis weggelassen, das Ritual aber noch praktiziert.