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Riegl, Alois
Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn: Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn im Zusammenhange mit der Gesammtentwicklung der Bildenden Künste bei den Mittelmeervölkern — Wien, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.1272#0141
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136

MALEREI.

aber nur in Copien erhalten, die beiden letzteren in brauchbarer Weise noch nicht publiciert und
überdies einer verhältnismäßig späten Zeit entstammend, während es uns vor allem interessieren
muss, die Entwicklung von der mittelrömischen zur spätrömischen Zeit kennen zu lernen. Glück-
licherweise liegt wenigstens die vatikanische Aeneis-Handschrift Nr. 3225, nach paläographischen
Kriterien im vierten Jahrhundert entstanden, nunmehr in treuen photographischen Reproductionen
vor, welche der hochverdiente Präfect der vatikanischen Bibliothek, P. E h r 1 e, vor kurzem
veranlasst hat. Die Auffassung vom Verhältnisse zwischen Figur und Raum, die uns hier entgegen-
tritt, ist in wesentlichen Punkten noch die vorconstantinische. Das Bild mit dem Abenteuer bei
Circe (Fig. 50, nach Pict. 39 der vatikanischen Publication) eröffnet dem Blicke einen Tiefraum
von bestimmtem Ausmaße: vom Meeresufer, in dessen nischenförmiger Bucht die Schiffe rasten,
sehen wir landeinwärts bis zu einer Gruppe von Häuschen, mit Menschen davor. Die flüchtig
skizzierten, nur mit Hilfe der geistigen Combination erkennbaren Figuren sind noch mit dem
Boden fest verbunden, indem sie darauf lange Schatten werfen ; ja die einheitliche Richtung des
Schattenwurfes bewirkt, dass dieses Bildchen uns bis zu einem gewissen Grade stimmung-
erweckend anmuthet. Aber dieser flüchtige Stimmungseindruck wird doch durch die Tendenz auf
Isolierung vollständig zurückgedrängt und überwunden. Die sichtbaren Formen sind in zwei
Coulissen zusammengepresst: vorne die Bucht mit den Schiffen, rückwärts die Häusergruppe mit
Tisch und Webstuhl in einer Linie davor; was rechts und links davon übrig bleibt, ist mit
Bäumen ausgefüllt und dadurch jedes Weiterdringen des Blickes in die unendliche Raumtiefe
abgeschnitten. Der hohe Horizont lässt dem Himmel (der also noch Grundebene ist) fast gar
keinen Platz übrig. Der Boden (Raum) zwischen den beiden Coulissen ist leer, wie es einem
nothwendigen Übel zukommt. Noch charakteristischer für die Vertheilung der Figuren in
Coulissen, die mit der Zertheilung des Innenraumes der oblongen Thermensäle in regelmäßige
(quadratische) Compartimente parallel läuft, ist Pict. 6; die Coulissen sind hier ganz streng linear
durchgeführt, zwischen Vorder- und Hintergrund ein weiter, vollständig leerer und daher wie
Reliefgrund wirkender Plan eingeschaltet, wodurch das Widerstreben gegen Anerkennung eines
freien (das heißt mit Körpern erfüllbaren) Raumes zwischen den einzelnen Darstellungsebenen
in höchst auffallender Weise zum Ausdrucke gelangt. Das Kokettieren mit der Raumtiefe inner-
halb bestimmter Grenzen tritt in Pict. 5 drastisch zutage, wo eine Wasserleitung aus einem in
der Tiefe gelegenen Bassin direct nach einer Viehtränke im Vordergrunde herausführt. Der Mond
erscheint wiederholt als Sichel, die aufgehende Sonne einmal (Pict. 5) als Helios-Kopf mit
Strahlennimbus. Beleuchtungseffecte finden sich in der seit hellenistischer Zeit aufgekommenen
Weise beobachtet, dass davon zwar einzelne Dinge, aber nicht der Luftraum und durch dessen
Vermittlung alle erreichbaren Dinge getroffen werden. Das Baumlaub ist fein und zitterig
skizziert, kein Blatt in taktischer Nahsicht gezeichnet. Die zwei Dido-Bilder (Pict. 26 und 27)
zeigen ein Interieur mit Abschlusswand geradeaus und zwei in perspectivischer Verkürzung
daranstoßenden Seitenwänden (ähnlich wie am Probianus-Diptychon in Berlin, aber von geringerer
Tiefe), desgleichen einem Stück verkürzter Decke darüber; dagegen schneidet die Thüre über-
quer in die linke Ecke des Raumes ein, und liefert somit den Beweis, dass es dem Künstler (und
darin erweist er sich eben als Spätrömer) durchaus nicht darauf angekommen ist, die einzelnen
dargestellten Dinge um jeden Preis in ihrer objectiven taktischen Verbindung untereinander im
Räume wiederzugeben. Die Figuren sind noch biegsam, die Axialität mit der Seitenverdrehung
des Blickes im allgemeinen noch wenig ausgebildet, aber doch nicht ohne Vertreter, wie zum
 
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