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Riegl, Alois
Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn: Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn im Zusammenhange mit der Gesammtentwicklung der Bildenden Künste bei den Mittelmeervölkern — Wien, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.1272#0143
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MALEREI.

Baumkronen nun zu stilisierten Massengebilden. Dieser Wandel bedingt den Eindruck einer
theilweisen Rückkehr zum Taktischen, den diese spätrömischen Figuren heute auf uns machen,
wenngleich ihre Aufnahme fortdauernd eine optische gewesen war.

Eine solche stilistische Beschaffenheit lässt die Entstehung der Wiener Genesis im vierten
Jahrhundert zwar nicht als unmöglich erscheinen, jedoch das fünfte Jahrhundert als Entstehungs-
zeit mit entschieden höherer Wahrscheinlichkeit vermuthen. Zugunsten der späteren Datierung
spricht auch der unzweifelhaft um das Jahr 500 entstandene Wiener Dioscorides, dem hier noch
einige Worte gewidmet sein sollen, wiewohl eine brauchbare Publication davon dermalen noch
nicht vorliegt. Seinen Hauptinhalt machen die Abbildungen von nahezu zweihundert Pflanzen
(nebst einer Anzahl von Thieren) aus, denen aber auch einige Blätter mit menschlichen Figuren
beigesellt sind. Die Pflanzen sind mit großer Naturtreue, unter Beobachtung der stärksten
Verkürzungen gemalt, aber stets nach spätrömischer Weise in eine Ebene projiciert, das heißt
die Pflanze nimmt wohl einen bestimmten cubischen Raum ein, jenseits dessen es aber keinen
weiteren Tiefraum gibt. An den Blättern lässt sich oft unmittelbar erweisen, dass ihre
Umrisse fortdauernd nicht als taktische (tastbare Begrenzungen im altorientalischen und
classischen Sinne), sondern als optische (das heißt mit dem Auge wahrnehmbare Randschatten)
aufzufassen sind: die dunklen Umrisslinien finden sich nämlich öfter entweder überhaupt nur
auf einer (der beschatteten, gewöhnlich unteren) Seite des Blattes deutlich angegeben oder sie
sind wenigstens auf dieser Seite stärker (fetter) gerissen als auf der beleuchtet zu denkenden
Oberseite. Die Details innerhalb der Umrisse sind immer flau, was diese Bilder übrigens selbst
mit den besten pompejanischen gemein haben; für unseren Geschmack empfangen die Dinge
eben ihr eigentliches Leben an der Oberfläche, den „farbigen Abglanz", vom lichterfüllten
Räume aus, in dem sie sich befinden. Die Behandlung der menschlichen Figuren ist im
allgemeinen diejenige der Genesis; nur tritt hier die Silhouettenmalerei (goldene Genien als
Personificationen der Künste im Dedicationsbilde) auf, die sich in Anwendung auf Figuren und
Ornamente bis in die karolingische Zeit vererbt hat. Die Figurenbilder sind von Rahmen ein-
gefasst, deren Ornamente schon durch ihre schattierungsmäßige Färbung verrathen, dass'sie
nicht als flache Ebenen, sondern als räumlich ausgedehnte Motive gefasst sein wollen. Eine
besondere Bedeutung kommt dieser Handschrift endlich dadurch zu, weil darin die ältesten
verzierten Initialen vorkommen: die nur mäßig vergrößerten Buchstaben sind einmal längs
der Schäfte und Balken mit Punkten eingefasst (was später von den irischen Mönchen nach-
gemacht wurde und von Janitschek und anderen aus einem angeblichen „irischen Metallstil"
materialistisch abgeleitet wurde), dann an den Ausläufern der Schäfte mit linearen Häkchen,
oder punktierten Häkchen und dreieckigen Blättchen besetzt, endlich in einigen Fällen mit
unten angehängten Thierfiguren (Tintenfisch Fol. 10 v, Delphin Fol. 10, Fisch Fol. 20) aus-
gestattet, welch letztere Art der Verzierung offenbar die Brücke zu der Fisch-Vogel-Ornamentik
in den Handschriften des siebenten und achten Jahrhunderts (und soweit griechische und
orientalische in Betracht kommen, noch weiterer fünf Jahrhunderte) herstellt.

der Miniaturmalerei besonders eigentümlich gewesen wäre; dieselbe ist vielmehr gleichzeitig in demselben Maße auch in der Mosaik- und
Wandmalerei aufgetreten. Es gibt eben keinen „Miniaturstil", sondern nur ein einheitliches Kunstwollen, das sich jeden Rohstoff und jede
Technik dienstbar macht, anstatt sich von ihnen beherrschen zu lassen.

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