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DAS GLEICHGEWICHT

waffnender Güte und streichelte dem Mädchen die Hand.
»Dann müssen wir erst einen kleinen Entwurf machen.
Tun Sie das bitte hier in meinem Zimmer. Und tun Sie,
als ob Sie in meinem kleinen Reich zu Hause wären.«
»Da bin ich nun überflüssig«, sagte ich und gab Fräulein
Börner und dem Mädchen die Hand.
Das Mädchen beugte sich ein wenig zu mir und flüsterte
mir zu, wie sich zwei gute Eameraden eine Heimlichkeit
sagen:
»Bitte, erzählen Sie Meister Itten nichts!«
»Das verspreche ich«, antwortete ich.
Ich habe mein Versprechen gehalten bis heute. Etwas
mehr als dreißig Jahre. Aber ich war damals sehr be-
kümmert.
Ich mußte, ob ich es wollte oder nicht, jetzt zu Itten
gehen.
Er war im Tempelherrenhaus des Goetheparkes. Sein
Atelier war ein Laboratorium, wie jedes Atelier bei uns.
Er begrüßte mich mit der ihm eigenen Mischung von
Güte und Distanz.
Es machte Mühe, zwei Stühle zum Sitzen freizumachen.
Mein Besuch bei Itten war etwas Ungewöhnliches. Jeder
von uns Meistern war überbeschäftigt, mit Lehrlingen
und Gesellen, mit Werkstattarbeit und mit eigener
Arbeit.
»Es ist da eine künstlerische Frage, über die ich gern mit
Ihnen kurz sprechen möchte«, sagte ich. »Hoffentlich
störe ich nicht zu sehr.«
 
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