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DAS GLEICHGEWICHT
Gleichgewicht gekommen war, es vielleicht überhaupt
noch nicht erreicht hatte.
»Wenn mein Gedanke richtig ist«, sagte ich, »oder gar
eine abschließende Erkenntnis wäre, so wären alle Kunst-
werke gerade durch ihr Gleichgewicht, das aber zum
Wesen des Kunstwerks gehört, nichts als der Ausdruck
einer menschlichen Unentschiedenheit, also die Kunst
eine wirkliche Gefahr für unsere seelisch-geistig-körper-
liche Entwicklung. Müßte das nicht zu dem Entschluß
führen, das Kunstwerkschaffen überhaupt aufzugeben,
da es uns nicht zur Entscheidung bringt?«
»Da stimmt verschiedenes nicht«, bemerkte Itten.
»Darf ich vermuten, daß es noch eine andere Grund-
ordnung gibt als das Gleichgewicht, eine Ordnung, der
vielleicht die Ordnung des üblichen Gleichgewichts un-
tergeordnet ist, es also eine höhere Ordnung des Gleich-
gewichts gibt?«
Itten zögerte lange, bis er vorsichtig antwortete:
»Ja.«
»Können Sie sich näher erklären?«
»Eigentlich nicht.«
»Ich bin gewiß, daß Sie diese höhere Ordnung kennen
und haben«, forschte ich weiter.
Itten sagte ruhig, doch ohne jede Ablehnung im Ton:
»Geheimnisse lassen sich nicht austauschen.«
Dann lächelte er ein wenig.
»Machen Sie sich keine Mühe, Schreyer. Es gibt Fragen
und Antworten. Aber jede Antwort enthält einen Wider-
DAS GLEICHGEWICHT
Gleichgewicht gekommen war, es vielleicht überhaupt
noch nicht erreicht hatte.
»Wenn mein Gedanke richtig ist«, sagte ich, »oder gar
eine abschließende Erkenntnis wäre, so wären alle Kunst-
werke gerade durch ihr Gleichgewicht, das aber zum
Wesen des Kunstwerks gehört, nichts als der Ausdruck
einer menschlichen Unentschiedenheit, also die Kunst
eine wirkliche Gefahr für unsere seelisch-geistig-körper-
liche Entwicklung. Müßte das nicht zu dem Entschluß
führen, das Kunstwerkschaffen überhaupt aufzugeben,
da es uns nicht zur Entscheidung bringt?«
»Da stimmt verschiedenes nicht«, bemerkte Itten.
»Darf ich vermuten, daß es noch eine andere Grund-
ordnung gibt als das Gleichgewicht, eine Ordnung, der
vielleicht die Ordnung des üblichen Gleichgewichts un-
tergeordnet ist, es also eine höhere Ordnung des Gleich-
gewichts gibt?«
Itten zögerte lange, bis er vorsichtig antwortete:
»Ja.«
»Können Sie sich näher erklären?«
»Eigentlich nicht.«
»Ich bin gewiß, daß Sie diese höhere Ordnung kennen
und haben«, forschte ich weiter.
Itten sagte ruhig, doch ohne jede Ablehnung im Ton:
»Geheimnisse lassen sich nicht austauschen.«
Dann lächelte er ein wenig.
»Machen Sie sich keine Mühe, Schreyer. Es gibt Fragen
und Antworten. Aber jede Antwort enthält einen Wider-