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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 2): Keramik, Tektonik, Stereotomie, Metallotechnik für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — München: Bruckmann, 1879

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https://doi.org/10.11588/diglit.66815#0296
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282

Achtes Hauptstück.

§. 151.
Die skandinavische Holzkirche.
Das alte Dynastenhaus müssen wir uns erst nach den Sagen kon-
struiren, die skandinavische Holzkirche dagegen steht uns in wohl
erhaltenen Exemplaren noch vor Augen und rechtfertigt wundersam in
allen Stücken unsere in §. 150 aufgestellte Charakteristik der nordischen
Architektur.
W ir wollen nicht erst bei der merkwürdigen Uebereinstimmung
ihres Grundplans mit demjenigen der nordischen Dynastenhalle verweilen,
obschon dieser Umstand, als Beweis für die Originalität beider (man hat
auch in diesen Kirchen das byzantinische Vorbild gesehen) hinreichend
wichtig ist; wir wollen vielmehr die Aufmerksamkeit besonders darauf
richten, wie auch in ihnen (den Kirchen nämlich) der Grundsatz der
Selbstständigkeit der Raumeseinheiten, die sie bilden, so ausgesprochen
hervortritt, dass beinahe kein Zweifel bleibt, ein bestimmtes baulich-
ästhetisches Bewusstsein sei hier thätig gewesen.
Diese Kirchen sind nicht Centralbauten in byzantinischer Weise,
vielmehr entsprechen sie nach der Form des Grundplanes einer kurzen
Basilika, aber sie sind es in dem Sinne freier Gruppirung von Räumen
um einen vorherrschenden aber keineswegs vollständig unterjochenden
Hauptraum; sie sind es in dem Sinne eines malerischen Prinzips,
das auf den Steinstil, profanen sowie kirchlichen, übertragen wurde, und
sich im Norden aufrecht erhielt, obschon bei der Durchbildung der roma-
nischen Basilika, in der nach dem Ende des ersten Jahrtausends befolgten
Richtung, das Bewusstsein desselben sich verdüsterte, so dass es nur
noch im mittelalterlichen Civilbau, der vom gothischen Baustile nur deko-
rative Formen entlehnte, sich traditionell behauptete. Die malerischen
Massengruppirungen und lebendigen Umrisse unserer mittelalterlichen
Städte sind altnordisch-romanisch, nicht gothisch; der gothische Stil
ist über sie hinweggegangen, und hat sie mit seinen Spitzdächern eher
beeinträchtigt als verschönert. Nicht leicht wird Jemand den gothischen
Riesenbasiliken, die sich wie Walfische aus dem Häusermeere heraus-
heben, Uebereinstimmung mit letzterem und malerische oder auch selbst
architektonische Fern Wirkung aufrichtig zuerkennen können; — aber die
herrlich gruppirten Centralbauten des Niederrheins beweisen sich auch
hierin als Ergebnisse kunstbewusstester Handhabung des oben bezeich-
 
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