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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 2): Keramik, Tektonik, Stereotomie, Metallotechnik für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — München: Bruckmann, 1879

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https://doi.org/10.11588/diglit.66815#0338
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324

Achtes Hauptstück.

Das gotbische Möbel (im engeren Sinne des Worts, nämlich Ge-
stühl, Tische etc.) war wegen seiner architektonischen Starrheit eigentlich
kein Möbel, es stand an der Wand fest und wurde mit beweglichen Kissen
und Draperien bedeckt, wenn es in Gebrauch kam.
Eine Umwälzung im Hausrath musste sofort eintreten, wie er wieder
beweglich ward. Man musste die Kissen und Draperien fest nageln, da-
mit sie bei der Bewegung des Möbels nicht herabfielen. So entstand der
Polsterstuhl, der bis in das XVII. Jahrhundert hinein seinen sehr ein-
fachen edlen, aber etwas steifen Typus behält, der aus den Meisterwerken
der grossen Maler jener Zeit hinreichend bekannt ist.1 Senkrechte Füsse
aus zierlicher Drechslerarbeit, etwas gebogene Lehne, einfacher Sammt-
beschlag mit Goldzwicken, Goldbesatz und Troddeln.
Die darauf folgende Periode verfolgt zwei Richtungen, den baroken
Schnitzereistil und diesem gegenüber die vollständige Bekleidung eines
einfachen Holzgerüstes mit prächtigen Seidenstoffen. (S. Figuren auf S. 325
oben und unten links. Eine Vermittlung beider zeigt Fig. S. 325 rechts.)

der Quantität (Fülle), in der wohlberechneten Wirkung gewiss weit über den gothischen
Möbeln unter Charles VII. und Louis XI. stehen. Die malerische Disposition der Dra-
perien, ihre Fülle deuteten auf das Verständniss des wahren Luxus. In dieser
Beziehung können wir die Werke jener Zeit nicht genug studiren; selbst diejenigen des
XVII. Jahrhunderts sind in dem gedachten Sinne noch lehrreiche Vorbilder. Heutzu-
tage entsprechen unsere Prachtmöbel nicht mehr unseren Sitten, sie sind entweder
kleinlich oder theatral. Sie passen weder zu unseren engen Kleidern noch zu unseren
bürgerlichen Gewohnheiten; sie sind mit Ornamenten überladen, deren Bestimmung
und Symbolik man nicht versteht; ihre Draperien zeugen selten von irgend einer
genialen Idee, aber nur zu oft von der Anstrengung des Tapeziers mit seiner theuren
Waare sparsam hauszuhalten. Damit ein Luxusmöbel wahrhaft reich und gross
erscheine, muss seine Konstruktion klar, einfach sein; der Reichthum besteht nicht in
gesuchten Kombinationen, sondern in der Fülle und in der richtigen Vertheilung der
Verzierungen. Man muss aber auch nicht das Breite mit dem Grossen verwechseln,
die Uebertreibung des Massstabes der Details für Magnificenz und Majestät halten. Das
Volle und Breite hat bei Staatsmöbeln den Nachtheil, den Hauptgegenstand, die Per-
son, zu verkleinern.
Die Möbelkunst vom Anfänge der Renaissance hatte das Verdienst, die dürftige
Ziererei der letzten gothischen Epoche zu beseitigen, ohne in die Uebertreibungen und
die Schwerfälligkeiten derjenigen Ludwigs XIV. zu verfallen. Die so hässlichen Kleider
des XV. Jahrhunderts hatten damals einer eleganten und faltenreichen Tracht Platz
gemacht, die dem Körper alle Freiheit gestattete. Diesem folgte das Möbel. Seine
Konstruktion hatte sich vereinfacht und entsprach den Bedürfnissen, drückte sie deut-
lich und klar aus. Seine Dekoration war leicht zu verstehen und seine Draperien har-
monirten in ihrer Fülle mit der gemächlichen Weite der Kleidung.“
1 Beispiel der Stuhl Leo’s X. in dem Porträt dieses Papstes von Raphael.
 
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