DIE PROPHETEN UND SIBYLLEN.
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dagegen wieder Bildhauer an den Portalen gothischer Dome, Miniatur-
maler in den Gebetbüchern, Dichter in den Prologen ihrer Mysterien die
Zahl der Propheten, welche die Ankunft Chrish' und sein Leben und
Leiden vorhersagen, beliebig vermehrt, jene der Sibyllen auf acht bis
zwölf gebracht. Die Architektur der Decke in der Sixtina gewährte
über den Sockeln zwischen den Pfeilern Raum für zwölf Figuren. Da
Michelangelo für jede Schmalseite einen Propheten bestirnmte, an den
Langseiten einen Propheten mit einer Sibylle wechseln liess, so theilte
er die Summe in sieben Propheten und fünf Sibyllen. Sie haben alle den
Grundton der Stimmung und die Anordnung gemeinsam. Jedem Propheten
und jeder Sibylle sind zwei Kinder-Genien beigegeben, welche als Diener
oder Begleiter der Hauptfigur auftreten, die Handlung erläutern, die
Gruppe abrunden. Dieses äussereBand wurde durch die Verwandtschaft der
inneren Natur bedingt. Die Ahnung der grossen kommenden Ereignisse
hat Propheten und Sibyllen aus der Ruhe ihres Daseins gerissen und
ihre Seele in die tiefste Bewegung versetzt. Von dieser Bewegung tragen
sie alle deutliche Spuren, mögen sie auch je nach Charakter, Alter und
Geschlecht dieselbe verschieden ausdrücken. So erscheint gleich der
erste Prophet, an dem Kopf des Gewölbes gegen den Altar zu, Jonas,
unter der Kürbisstaude in eigenthümlicher Auffassung. Der Wallfisch
ihm zur Seite deutet die Lage an, in welcher ihn sich der Künstler
gedacht hat. Jonas ist aus dem Grabe des Thierleibes emporgestiegen
— daher seine Nacktheit — und athmet nun begeistert wieder neues
Leben. Eine Wollust der Bewegung hat seine Glieder ergrisfen, in seinem
aufwärts gerichteten Gesichte aber prägt sich die höchste Erregung eines
Visionärs aus. Er schaut im Geiste die Auferstehung Christi, von welcher
seine eigene Wiederbelebung das Vorbild war.
• Dem Jonas zunächst benachbart sitzt an der linken Langseite die
libysche Sibylle. Als ob die Nachbarschaft auch auf den Charakter
Einssuss geübt hätte, zeigt die libysche Sibylle gleichfalls eine bis zur
Leidenschaft gesteigerte heftige Bewegung. Sie hat den Leib halb ge-
wendet, sodass vom Oberkörper die Rückenansicht geboten wird, während
die Beine mehr nach vorn gekehrt sind. Mit hoch erhobenen Armen
hält sie ein Buch aufgeschlagen, ohne aber in demselben zu lesen. Sie
blickt vielmehr weg von demselben aus dem Bilde heraus nach unten.
Zwei Genien haben sich links von ihr niedergelassen. Der eine mit der
Rolle unter dem Arme weist auf die in Geberden wie in Tracht seltsame
Sibyllengestalt, deren Bedeutung Vasari dahin auslegt, dass sie einen
starken Band aus vielen Büchern zusammengeschrieben hat und nun auf-
flehen will, indem sie zugleich das Buch zu schliessen sich anschickt.
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dagegen wieder Bildhauer an den Portalen gothischer Dome, Miniatur-
maler in den Gebetbüchern, Dichter in den Prologen ihrer Mysterien die
Zahl der Propheten, welche die Ankunft Chrish' und sein Leben und
Leiden vorhersagen, beliebig vermehrt, jene der Sibyllen auf acht bis
zwölf gebracht. Die Architektur der Decke in der Sixtina gewährte
über den Sockeln zwischen den Pfeilern Raum für zwölf Figuren. Da
Michelangelo für jede Schmalseite einen Propheten bestirnmte, an den
Langseiten einen Propheten mit einer Sibylle wechseln liess, so theilte
er die Summe in sieben Propheten und fünf Sibyllen. Sie haben alle den
Grundton der Stimmung und die Anordnung gemeinsam. Jedem Propheten
und jeder Sibylle sind zwei Kinder-Genien beigegeben, welche als Diener
oder Begleiter der Hauptfigur auftreten, die Handlung erläutern, die
Gruppe abrunden. Dieses äussereBand wurde durch die Verwandtschaft der
inneren Natur bedingt. Die Ahnung der grossen kommenden Ereignisse
hat Propheten und Sibyllen aus der Ruhe ihres Daseins gerissen und
ihre Seele in die tiefste Bewegung versetzt. Von dieser Bewegung tragen
sie alle deutliche Spuren, mögen sie auch je nach Charakter, Alter und
Geschlecht dieselbe verschieden ausdrücken. So erscheint gleich der
erste Prophet, an dem Kopf des Gewölbes gegen den Altar zu, Jonas,
unter der Kürbisstaude in eigenthümlicher Auffassung. Der Wallfisch
ihm zur Seite deutet die Lage an, in welcher ihn sich der Künstler
gedacht hat. Jonas ist aus dem Grabe des Thierleibes emporgestiegen
— daher seine Nacktheit — und athmet nun begeistert wieder neues
Leben. Eine Wollust der Bewegung hat seine Glieder ergrisfen, in seinem
aufwärts gerichteten Gesichte aber prägt sich die höchste Erregung eines
Visionärs aus. Er schaut im Geiste die Auferstehung Christi, von welcher
seine eigene Wiederbelebung das Vorbild war.
• Dem Jonas zunächst benachbart sitzt an der linken Langseite die
libysche Sibylle. Als ob die Nachbarschaft auch auf den Charakter
Einssuss geübt hätte, zeigt die libysche Sibylle gleichfalls eine bis zur
Leidenschaft gesteigerte heftige Bewegung. Sie hat den Leib halb ge-
wendet, sodass vom Oberkörper die Rückenansicht geboten wird, während
die Beine mehr nach vorn gekehrt sind. Mit hoch erhobenen Armen
hält sie ein Buch aufgeschlagen, ohne aber in demselben zu lesen. Sie
blickt vielmehr weg von demselben aus dem Bilde heraus nach unten.
Zwei Genien haben sich links von ihr niedergelassen. Der eine mit der
Rolle unter dem Arme weist auf die in Geberden wie in Tracht seltsame
Sibyllengestalt, deren Bedeutung Vasari dahin auslegt, dass sie einen
starken Band aus vielen Büchern zusammengeschrieben hat und nun auf-
flehen will, indem sie zugleich das Buch zu schliessen sich anschickt.
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