VI.
Raffael in Rom unter Julius IL
Jie gangbare Tradition weckt den Schein, als wäre Michel-
angelo zu der Zeit, da Raffael zuerst die Schwelle des
Vaticans überschritt, längst in Rom eingebürgert gewesen.
Rechnet man aber die vielen Monate ab, die Michelangelo
in den Steinbrüchen von Carrara zugebracht, und ferner
den langen Aufenthalt in Bologna, so findet man, dass beide Meister ihre
Thätigkeit beinahe gleichzeitig in Rom begannen. Michelangelo stand
bereits mehrere Jahre in den Diensten des Papstes, ebenso lange kannte
er auch die beiden grossen Aufgaben, welche ihm der Papst gestellt hatte.
Schwerlich aber war er mit seinen Arbeiten in der Sixtina gegen Raffael's
frühestes Werk im Vatican bedeutend im Vorsprung. Damit sind alle
Atelieranekdoten über die Rivalität zwischen Michelangelo und Raffael
abgefertigt, insbesondere die Fabel beseitigt, als ob erst das Wohlgefallen
des Papstes an den vaticanischen Gemälden Raffael's den Entschluss, auch
die Decke der Sixtina ausmalen zu lassen, geweckt, oder als ob Michel-
angelo seine Weigerung mit dem Hinweis auf den viel geübteren Raffael
begründet hätte. Wie kam Raffael nach Rom? Die Antwort muss zu-
nächst bei Vasari gesucht werden. Der Aretiner spricht zu wiederholten
Malen von den Anfängen Raffael's in Rom. Wenn er es nur gelegentlich
und nebenbei in den Biographien anderer Künstler thut, dann freilich
hören wir ihm misstrauisch zu. Als echter Pragmatiker unterordnet er
gern die Staffage schlechthin dem Effecte der Hauptfiguren und färbt
alle Nebenumstände, wie es für seine Zwecke gerade passend erscheint,
und nicht wie jene sich in der Wirklichkeit darstellen. In der Biographie,
wo Raffael selbst den Haupthelden spielt, fallen aber diese Versuchungen,
von der genauen Wahrheit abzuweichen, fort. Und wenn er hier wie
dort, so oft er auf den Anlass der Berufung Raffael's nach Rom zu sprechen
kommt, in einem wesentlichen Punkte sich treu bleibt, so mindert das
nicht seine Glaubwürdigkeit.
Als Anlass der Berufung Rasfael's aber giebt Vasari Folgendes an: