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ganz unmöglich von der Hand zu weisen, dass die
Giebelwand zwischen den beiden Türmen von einem
älteren Meister und nach einem unbekannten Entwurf
Abb. 20. (HI)-
Innere Wandarkatur der westlichen Giebelmauer.
begonnen, auf geringer Höhe aber in anderem Sinne
durch einen jüngeren Meister überarbeitet oder viel-
mehr umkleidet worden wäre. Gehören vielleicht
die schon erwähnten, zwischen der ersten Wimperg-
reihe und der ersten Galerie zu beiden Seiten des
Hauptportalgiebels vortretenden Mauerteile, welche
die Spuren abgehauener Baldachine zeigen und
deren Stabwerk in seiner Achsenteilung sich nicht
recht der übrigen Fassade einfügen will, zu einem
nach älterem Plane begonnenen Bau? Sehr wahr-
scheinlich ist diese Annahme nicht, dieselbe ist aber
immerhin nicht unmöglich. Keinesfalls gehört jedoch
irgend etwas von der Aussenfassade den Plänen A
oder Ai an.
Offenbare Übereinstimmung besteht aber mit
dem Riss B. Gegenüber den vorbesprochenen älteren
Plänen, welche wie wir gesehen haben, wenn nicht
in direkter Nachahmung, so doch in offenbarer An-
lehnung an französische Vorbilder als das typische
Schlussergebnis des französisch-gotischen Stil-
gedankens angesehen werden müssen, tritt uns der
Riss B in souveräner Selbständigkeit als das Werk
eines hochbedeutenden Künstlers, eines der ersten
seiner Zeit entgegen.
Der Meister desselben ist Künstler und Statiker
zugleich. Die schwächlichen Turmpfeiler der älteren
Entwürfe genügen ihm nicht, aber er versucht auch
nicht, die ihm notwendig erscheinende Konstruktions-
verstärkung versteckt ins Innere des Baues zu
legen. Kräftig vorspringende Strebepfeiler, die in
vielleicht allzu konsequenter Weise das ästhetische
Verlangen nach architektonischer Wahrheit betonen,
lassen von unten an das konstruktive Gerüst des
Baues offen zu Tage treten und bewirken damit
eine energische Dreiteilung der ganzen Fassade.
Der Künstler des Entwurfs weicht damit noch mehr
wie sein Vorgänger von den französischen Vor-
bildern ab. Die Portalgruppe, das Dominierende in
der französischen Kathedralfassade der Hochgotik,
tritt in Strassburg durchaus folgerichtig zurück
hinter das für das Gesamtbild ungleich wichtigere
konstruktive Element der Turmstrebepfeiler, die
jetzt den selbständigen Rahmen für die drei streng
von einander getrennten Portale bilden. Diese sich
in dem Aufbau der Fassade verratende konstruktive
Folgerichtigkeit, welche die gründliche, verstandes-
mässige Geistesarbeit des Künstlers verrät, ist aber
weit davon entfernt, zur seelenlosen Formel zu
werden. Geometrisches Linienwerk, die Versinn-
lichung geheimnisvoll wirkender statischer Kräfte,
breitet sich über das Ganze aus. Das konstruktive
Gerüst der Fassade wird damit in ein märchenhaft
schönes dekoratives Gewand gekleidet. Wie ein
Gewebe feinster Spitzen legt sich auf Pfeiler und
Abb. 2i. (IV).
Innere Wandarkatur der westlichen Giebelmauer.
Mauer, hier frei gearbeitet, dort aus dem Mauer-
körper herauswachsend, leichtes freies Stabwerk,
schöngezeichnetes Masswerk, Reihen durchbrochener
ganz unmöglich von der Hand zu weisen, dass die
Giebelwand zwischen den beiden Türmen von einem
älteren Meister und nach einem unbekannten Entwurf
Abb. 20. (HI)-
Innere Wandarkatur der westlichen Giebelmauer.
begonnen, auf geringer Höhe aber in anderem Sinne
durch einen jüngeren Meister überarbeitet oder viel-
mehr umkleidet worden wäre. Gehören vielleicht
die schon erwähnten, zwischen der ersten Wimperg-
reihe und der ersten Galerie zu beiden Seiten des
Hauptportalgiebels vortretenden Mauerteile, welche
die Spuren abgehauener Baldachine zeigen und
deren Stabwerk in seiner Achsenteilung sich nicht
recht der übrigen Fassade einfügen will, zu einem
nach älterem Plane begonnenen Bau? Sehr wahr-
scheinlich ist diese Annahme nicht, dieselbe ist aber
immerhin nicht unmöglich. Keinesfalls gehört jedoch
irgend etwas von der Aussenfassade den Plänen A
oder Ai an.
Offenbare Übereinstimmung besteht aber mit
dem Riss B. Gegenüber den vorbesprochenen älteren
Plänen, welche wie wir gesehen haben, wenn nicht
in direkter Nachahmung, so doch in offenbarer An-
lehnung an französische Vorbilder als das typische
Schlussergebnis des französisch-gotischen Stil-
gedankens angesehen werden müssen, tritt uns der
Riss B in souveräner Selbständigkeit als das Werk
eines hochbedeutenden Künstlers, eines der ersten
seiner Zeit entgegen.
Der Meister desselben ist Künstler und Statiker
zugleich. Die schwächlichen Turmpfeiler der älteren
Entwürfe genügen ihm nicht, aber er versucht auch
nicht, die ihm notwendig erscheinende Konstruktions-
verstärkung versteckt ins Innere des Baues zu
legen. Kräftig vorspringende Strebepfeiler, die in
vielleicht allzu konsequenter Weise das ästhetische
Verlangen nach architektonischer Wahrheit betonen,
lassen von unten an das konstruktive Gerüst des
Baues offen zu Tage treten und bewirken damit
eine energische Dreiteilung der ganzen Fassade.
Der Künstler des Entwurfs weicht damit noch mehr
wie sein Vorgänger von den französischen Vor-
bildern ab. Die Portalgruppe, das Dominierende in
der französischen Kathedralfassade der Hochgotik,
tritt in Strassburg durchaus folgerichtig zurück
hinter das für das Gesamtbild ungleich wichtigere
konstruktive Element der Turmstrebepfeiler, die
jetzt den selbständigen Rahmen für die drei streng
von einander getrennten Portale bilden. Diese sich
in dem Aufbau der Fassade verratende konstruktive
Folgerichtigkeit, welche die gründliche, verstandes-
mässige Geistesarbeit des Künstlers verrät, ist aber
weit davon entfernt, zur seelenlosen Formel zu
werden. Geometrisches Linienwerk, die Versinn-
lichung geheimnisvoll wirkender statischer Kräfte,
breitet sich über das Ganze aus. Das konstruktive
Gerüst der Fassade wird damit in ein märchenhaft
schönes dekoratives Gewand gekleidet. Wie ein
Gewebe feinster Spitzen legt sich auf Pfeiler und
Abb. 2i. (IV).
Innere Wandarkatur der westlichen Giebelmauer.
Mauer, hier frei gearbeitet, dort aus dem Mauer-
körper herauswachsend, leichtes freies Stabwerk,
schöngezeichnetes Masswerk, Reihen durchbrochener