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Straßburger Münsterblatt: Organ des Straßburger Münster-Vereins — 6.1912

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Clauss, Joseph: Eine rätselhafte Skulpturengruppe an der Strassburger Münsterkanzel
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https://doi.org/10.11588/diglit.20536#0068
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figures de laiques: un homme dans l’attitude du
repos et une femme en priere». Wie man sieht,
weiss er nichts von der dritten Gestalt an der
Rückseite des Pfostens. Nach ihm sollen die Skulp-
turen den Meister Hammerer und seine Frau vor-
stellen. Gerard ist die Quelle für alle Späteren
geblieben. Kraus in seiner ausgiebigen Beschrei-
bung des Münsters 18761 sagt kurz, aber nicht ganz
zutreffend : «an (dem) Fusse sitzen mehrere Per-
sonen, eine in Pilgertracht, offenbar die zuhörende

Abb. 2. Kanzelpfeiler von vorn.

Gemeinde». Die Erklärung, es sei der Meister und
seine Frau, lehnt er ab. Er hat die Gruppe wohl
persönlich betrachtet, das zeigt, dass er den Pilger
erkannt hat, über den Rest hat er flüchtig hinweg-
gesehen. Wörtlich stimmt mit ihm Förster in seiner
Schrift: Strassburg 1894 überein2. Am ehesten
glaubt man wohl Aufschluss finden zu sollen in einer
Schrift, die sich die Skulpturen des Münsters zur
speziellen Betrachtung ausgewählt. Eine solche gab
E. Meyer-Altona 1894 heraus3. Aber man wird
arg getäuscht, denn die Kanzel bleibt hier ganz

1 Kunst und Altertum im Eisass, I 479.

2 Bull, kl. 40, S. 35.

3 Die Skulpturen des Strassb. Münsters. I. Teil : Die

älteren Skulpturen bis 1789 (Studien zur deutschen Kunst-
geschichte I, 2), Strassb., Heitz 8° (80 S. u. 35 Abb. — Ein
II. Teil ist nie erschienen).

unberücksichtigt, weil — wie der Verfasser (S. 58)
angibt, sie nicht organisch mit der Architektur des
Münsters verbunden ist. Derselbe junge Doktorand
hat auch in dem grösseren Werk : Strassburg

und seine Bauten, das zur Tagung des Archi-
tekten- und Ingenieur-Vereins im gleichen Jahr 1894
erschien1, den Abschnitt über die Münsterskulpturen
bearbeitet. Darin sagt er (S. 228) ganz kurz:
« Unter der . . . Treppe sitzen in Andacht (oder in
Schlummer?) versunken zwei Zuhörer, ein Pilger
und eine Frau». Das ist alles; nicht einmal der
Versuch einer Deutung! In seiner schönen Mono-
graphie des Münsters 2 gibt L. Dacheux eine sum-
marische Beschreibung der Kanzel, unserer Gruppe
aber gedenkt er mit keiner Silbe. Professor
Fr. Leitschuh in seinem Buche: Strassburg, Nr. 18
von Seemanns berühmten Kunststätten igo3 wieder-
holt (S. 5i) das längst Bekannte : «■ Unter der

Treppe sitzen in Andacht zwei Zuhörer, ein Mann,
hinter dem Pilgerstab und Tasche liegen, und eine
Frau: vielleicht der Meister Hammerer und sein
Weib». Der neueste Schilderer der Schönheiten
der Kathedrale, der Franzose Georg Delahaye3
(1910), berührt die Gruppe mit keiner Silbe.

Zur Erklärung der Gruppe muss man mit der
vorderen Figur beginnen. Würde man sie etwas
aufmerksamer betrachtet haben, unmöglich hätte man
in ihr einen Zuhörer oder gar den Meister Hammerer
sehen können. (Abb. 2.) Die Gestalt sitzt nicht,
sondern liegt — allerdings mit eingezogenen Knieen
— und zwar auf einer geflochtenen Matte, das
Haupt auf die flache Rechte gelegt. Bedeckt ist sie
mit einem vorn hoch aufgekrempten Hut. Wer nur
etwas in der mittelalterlichen Ikonographie bewandert
ist, wird diesen Hut sofort als den gewöhnlichen
Pilgerhut erkennen. Mit ihm bedeckt erscheinen die
hl. Pilger : Ludanus, Sebald, Rochus und besonders
der hl. Apostel Jakobus der Aeltere. Als Pilger
kennzeichnen den ruhenden Mann auch Pilgertasche
und Stab, die nicht hinter ihm liegen, wie eine
flüchtige Betrachtung die Schriftsteller sagen lässt.
Vielmehr steht der Stab hinter der Matte angelehnt
an den Pfeiler, an dem auch die Tasche aufgehängt
ist. Pilgerzeichen, Strohmatte und besonders der
ausgeschüttete Kübel unter einer Treppe (Abb. 3)
erinnern den Kenner der Ikonographie sofort an einen
Heiligen, der allein unter allen mit diesem Beiwerk
dargestellt wird, den hl. Alexius. Die Erklärung
dessen gibt uns seine Legende. Einem vornehmen
römischen Geschlecht entsprossen, verliess er aus
Liebe zur christlichen Armut am Hochzeitstag Braut,

1 Strassb., Trübner gr. 8>.

2 La Cathedrale de Strasb. Ebenda 1900. Fischbach, gr. fol.,
S. 128 f. mit 2 Abb.

3 La Cathedrale de Strasb., Paris, Longuet, 120, S. 169.
 
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