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Wagner, Christoph
Der beschleunigte Blick: Hann Trier und das prozessuale Bild ; [Kunstverein Zweibrücken, 17. Oktober - 7. November 1999] — Berlin, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.4241#0009
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I.

Die Malerei des Informel ist inzwischen von einem
Stück Gegenwartskunst zu einem Stück Kunst-
geschichte geworden. Diese Veränderung der re-
zeptionsästhetischen Perspektive beschreibt nicht
nur eine gewachsene historische Distanz, sondern
eröffnet auch die Möglichkeit, unter neuen Ge-
sichtspunkten über die Einordnung und Bewer-
tung dieser Malerei nachzudenken. Denn auch
Kunstwerke der jüngeren Vergangenheit entste-
hen nicht außerhalb der Geschichte, sondern unter
sich historisch verändernden kunst-, ästhetik- und
wahrnehmungsgeschichtlichen Rahmenbedingun-
gen, deren Kenntnis für ihr Verständnis wichtig
ist.

So wurden die informelle Malerei und die Malerei
Hann Triers lange Zeit von dem ästhetischen Para-
digma einer >reinen< gestischen Abstraktion be-
gleitet1, etwa wenn Umberto Eco die informelle
Bildsprache im ästhetischen Generalkonzept des,
von motivischen Bezügen gelösten, abstrakten,
»offenen Kunstwerks« verteidigte2. Es handelte
sich um eine prägnante und schlagkräftige Positi-
on, die sich im Feld der vielfältigen künstlerischen
Strömungen und der kunstkritischen Tagesdiskus-
sionen bewährte, einem vertieften Verständnis der
einzelnen Werke und einer differenzierten kunsthi-
storischen Einordnung aber inzwischen vielfach
hinderlich wird. Mit zunehmendem historischem
Abstand beginnen sich auf eigentümliche Weise
die wertenden Vorzeichen vor manchem der äs-
thetischen Argumente der Vergangenheit, die ur-
sprünglich in apologetischer Absicht vorgebracht
wurden, ins Gegenteil zu verkehren und man
erkennt, daß andere Seiten dieser Kunst verdeckt
worden sind: Wenn ein Gemälde informeller Male-
rei beispielsweise - wie Eco argumentierte - nur
noch allgemein »als Vorschlag eines >Feldes< inter-
pretativer Möglichkeiten« verhandelt wird, das
den Betrachter - so Eco weiter - lediglich »zu einer
Reihe stets veränderlicher >Lektüren< veranlaßt«3,
dann mutiert diese selbstbezügliche »Offenheit«
leicht zu Unbestimmtheit, »Mehrdeutigkeit« zu

Beliebigkeit. Beides hat man der Abstraktion des
Informel schon vorgeworfen.
Dabei wurde übersehen, daß die Sprache der
Werke selbst zumeist viel präziser ist und daß die
Malerei der verschiedenen Künstler des Informel
von sehr unterschiedlichen künstlerischen Konzep-
ten getragen wird. Von informeller Malerei sollte
man nicht im Singular, sondern im Plural der ver-
schiedenen künstlerischen Konzepte sprechen4.
Und die Frage nach den wahrnehmungsgeschicht-
lichen Grundlagen dieser Malerei liefert zusätzliche
Bezugspunkte, um die Unterschiedlichkeit dieser
künstlerischen Konzepte und bildlichen Sprachen
genauer zu konturieren.

In dieser Perspektive soll im folgenden ein bisher
wenig untersuchter Aspekt in der Malerei Hann
Triers näher betrachtet werden, seine künstlerische
Auseinandersetzung mit dem Problem der beweg-
ten Wahrnehmung, dem beschleunigten Blick, als
Ausgangspunkt einer verzeitlichten, prozessualen
Malerei und spezifischen Spielart einer informellen
Ästhetik. Vielfach hat Hann Trier unter den wahr-
nehmungsgeschichtlichen Vorzeichen einer Ästhe-
tik des beschleunigten Blicks motivische Ausgangs-
punkte verwandelt. Und interessanterweise hat er
dabei nicht selten an Vorbildern aus der Geschich-
te der Kunst angesetzt. Der auf diesem Wege in
Triers CEuvre eingelagerte kunsthistorische >Sub-
text< ist hier erstmals im Zusammenhang zu analy-
sieren5. Nicht zuletzt, weil er zeigt, daß die für die
informelle Malerei konstitutive Idee des prozessua-
len Bildes - dem Avantgarde-Anspruch zum Trotz
- keineswegs voraussetzungslos in der Geschichte
der Kunst ist, sondern eine lange und vielgliedrige
Vorgeschichte, auch auf dem Boden der gegen-
ständlichen Malerei besitzt.

Was unter dem »beschleunigten Blick« und der
Idee des prozessualen Bildes bei Hann Trier zu ver-
stehen ist, soll vorab exemplarisch in einem
dreiteiligen Gemälde mit dem Titel La tasse au
 
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