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Zur Geschichte der neuen Kunst

Die Geschichte ist eine Aufzählung von Tatsachen. Also so unwichtig, wie die
Tatsache in der Kunst. Wichtig ist, was geschieht, nicht was geschah. Kunst geschieht,
und wenn die Kunst nur geschehen ist, ist sie nie Kunst gewesen. Kunst kennt keinen
Fortschritt, keine Entwicklung, Kunst ist Kunst. Fortsdiritt und Entwicklung werden
durch Vergleich festgestellt. Kunst ist aber kein Vergleichen, Kunst ist Gleichnis. Wer
es nicht glaubt, kann nicht selig in der Kunst werden. Kunstgeschichte ist die Fest-
stellung der Namen der Maler, die die Vision eines Künstlers bewußt oder unbewußt bis
zur Bewußtlosigkeit nachmalten. Kunstwissenschaft ist die Aufzählung der Eindrücke von
Bildern auf Menschen, die keine Bilder sehen und sie darum besprechen müssen. Die
Besprechung eines Bildes ist die Unfähigkeit, eine Vision sprachbildnerisch ge -
stalten zu können. Die Bespredier lehnen sidr an das Bild, das aus dem Rahmen
fällt. Bilder lassen sich nicht beschreiben, denn erst das Schreiben der Bilder wäre
wieder Kunst.

Der Kunstkritiker teilt seinen Lesern mit, daß sidi oben links die untergehende
Sonne befindet. Ich drehe das Bild um und die Sonne geht unten rechts auf. Der
Eichenwald oder der Pinienhain stehen jeßt Kopf, bemerkt der Kunstkritiker wissen*
schaftlich. Wer bürgt dem Leser aber, daß der Kritiker nicht Kopf stand, als die Sonne
oben links unterging. Warum soll es dem Bilde nicht rechts sein, was dem Kritiker
links ist. Warum ist der Kreis oben eine untergehende und unten eine aufgehende
Sonne. Wer in der Sonne allerdings nur einen gelben Kreis sieht, dem mag der gelbe
Kreis die Sonne sein. Der Kunstkritiker erkennt den Wald nur an den Bäumen, aber
er sieht den Wald vor Bäumen nicht. Ist das ein Wald, der Kopf steht, wenn man
das Bild umdreht, um so mehr als der Wald keinen Kopf hat, mit dem er sich ver*
schreiben kann. Diese Natur scheint mir sehr unnatürlich. Ist das ein Gegenstand, der
es erst durch den Stand wird, den ein Beschauer auf dem beliebten Punkt einnimmt.
Es ist gefährlich, sich auf Punkte zu stellen. Es ist noch gefährlicher, wenn sich viele
Menschen auf einen Standpunkt stellen. Es ist etwas eng, und da sich alle viele Mühe
geben müssen, nicht hinunterzufallen und den Standpunkt nicht zu verlieren, gibt man
das Sehen auf und das Schauen und begnügt sich mit der Vertretung des Punktes.
Andere suchen sich bequemlich einen anderen Standpunkt. Die kürzeste Verbindung
zwischen zwei Punkten ist die gerade Linie und der Fortschritt ist fertig. Troßdem alles
stehen blieb. In der Kunst aber kommt es auf den Schritt und nicht auf den Fortschritt
an. Das soll mir einer erst vormadien, wie man sich aus Bildern entwickeln kann.
Den Vielen ist die Kunst ein Knäuel. Aber das Knäuel ist verschwunden, wenn man
es entwickelt und der Faden ist nicht einmal zum Aufhängen gut genug.

So einfach ist es mit dem Schaffen nicht. Es ist viel einfacher. Kunst ist nicht
Darstellung. Kunst ist Gestaltung. Verbildete halten das Geistige für Spiritismus. Ver*
bildete wissen, daß es keinen Geist gibt. Verbildete sind geistreich, weil sie geistig arm
sind. Verbildete wissen genau, wie alles aussieht. Sie sehen jede Rippe im Körper

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